Kinder waren noch nie so gut dokumentiert wie heute. Unbehaglich scharfe 3-D-Ultraschallbilder zeigen schon Embryos als fotogene, kleine Gestalten mit Hautstruktur, die an Ton erinnert, mit Mimik und individuellen Gesichtszügen. Das fotografische Porträt beginnt im Mutterleib, bevor den Neugeborenen bei jeder Gelegenheit eine Kamera entgegengehalten und jeder Zahn, jeder Schritt und jeder Moment abgelichtet wird, an den man sich irgendwann einmal erinnern wollen könnte. Diese Bilderflut, motiviert durch Liebe, Stolz und das Erahnen der Tatsache, dass diese Kindheit zu schnell vorbei sein wird, ist auch der Beginn des Projekts "Julia Wannabe" der polnischen Fotografin Anna Grzelewska. Die Künstlerin aus Warschau hat ihre Tochter, wie es Eltern eben tun, seit ihrer Geburt auf Tausende von Aufnahmen gebannt. Erst nach und nach präzisierte sich ihr Interesse und richtete sich auf die ersten Anzeichen von Weiblichkeit an Julias Körper und in ihrem Verhalten.
"Ich wollte sehen, wann es anfängt", sagt Anna Grzelewska. "Die Stimmung und der Unterton der Bilder kommen aus dieser Frage." Aus den ungezählten Fotos ist eine Serie von 25 Bildern entstanden, die ihre Tochter zwischen kindlicher Selbstvergessenheit und erwachendem Unwohlsein in ihrem sich verändernden Körper zeigen. In der Badewanne dreht eine noch kindliche Julia ihrer Mutter vertrauensvoll die nackte Brust zu, einen undefinierten Zeitraum später wendet sich ein Teenager beim Abtrocknen verschämt zur Wand. Julia inspiziert ihren pinken Nagellack, während sich hinter ihr das Plansch-Plastikspielzeug auf dem Badewannenrand türmt, auf einem anderen Foto treffen sich ein Laptop in Rosa-Metallic, ein Eulennachthemd und die Reste der Kinderzimmerdeko.
Diese Zeit des Dazwischen, eine Zeit der Verletzlichkeit und Widersprüche, hat Fotografen und Maler schon immer fasziniert. Während Werke von Balthus oder Ernst Ludwig Kirchner mit ihrem sexualisierenden Blick auf junge Mädchen heute mit Argwohn betrachtet werden, hat Anna Grzelewska intime Momente eingefangen, in denen Nacktheit zwar vorkommt, aber kein Thema ist. "Bei uns zu Hause sind wir oft nackt", sagt sie. "Wir lesen, essen oder surfen im Internet. In diesem geschützten Raum interessiert mich der sexuelle Kontext des Körpers nicht."
Leerstellen und unbestimmbar dahinfließende Zeit
Anna Grzelewska, die Kulturanthropologie, Pädagogik und Fotografie studiert hat, erschafft mit ihrer Serie das Gegenteil eines lückenlos dokumentierten Heranwachsens. Es sind die Leerstellen und die unbestimmbar dahinfließende Zeit, die die meist analog fotografierten Bilder prägen und zu mehr als einem persönlichen Momentarchiv machen. Viele der Bilder zeigen Details, die von einzelnen Erlebnissen erzählen könnten, durch den fehlenden Kontext aber auch zu Sinnbildern emotionaler Volten einer im Grunde behüteten Jugend werden. Rote Striemen auf Julias Rücken wirken wie ein unbestimmter Einbruch von Schmerz in eine geschützte Sofakissenumwelt. Eine Gipsmaske nach einer gebrochenen Nase ist ein grotesker Farbtupfer im Mädchengesicht und ein eindringliches Bild für die Fremdheit, die Eltern und Kinder auch ohne größere Beziehungskatastrophen in einer Zeit der wachsenden Selbstständigkeit füreinander empfinden können.
Julia selbst hat ihre fotografierende Mutter lange als selbstverständlichen Teil ihres Alltags akzeptiert. Mit zehn Jahren klebte sie zum ersten Mal ein "Stop"-Schild aus buntem Tesafilm an ihre Tür, und mit 13 ließ sie sich eine Zeit lang überhaupt nicht fotografieren. Erst mit 15 hatte sie einen gewissen Stolz auf das Familienprojekt entwickelt – entfacht unter anderem durch eine Ausstellungseröffnung, auf der sie sich selbst zum ersten Mal großformatig an den Wänden sah und vom Publikum erkannt wurde. Vor bald fünf Jahren ist sie 18 geworden, das offizielle Ende einer Kindheit und ein Tag, der in der Familie als Initiation gefeiert wurde.
Das Gefühl, wirklich gesehen zu werden
Einige der Bilder seien ihrer Tochter sehr wichtig geworden, sagt Anna Grzelewska. Das Foto im milchigen Badewasser klebte an Julias Zimmerwand, auch wenn ihre Lieblingsbilder immer noch die Selfies mit ihren Freundinnen und der verkrampften Mundhaltung blieben. Als Künstlerin hat es Anna Grzelewska geschafft, Julia als Mensch, nicht nur als ihre Tochter zu zeigen. "Ich hatte Angst, dass ich ihr alle meine Ängste, meine Vorurteile, Hemmungen, Regeln und Grenzen weitergebe", sagt die 45-Jährige. "Sie mit der Kamera aus der Distanz zu beobachten gab mir die Möglichkeit zu erkennen, welche Empfindungen ihre sind und welche aus meiner Erinnerung kommen."
Anna Grzelewska hat mit ihrer Serie "Julia Wannabe" ein Gefühl eingefangen, das in der Zeit des Dazwischen lebenswichtig, beruhigend und gleichzeitig beängstigend ist. Das Gefühl, wirklich gesehen zu werden.