Ist es schüchterne Zurückhaltung, jugendlicher Weltschmerz oder die selbstbewusste Egal-Haltung in Richtung ihres Gegenübers? Die Vieldeutigkeit des Blickes, den die Jugendliche direkt in die Kamera und damit auf uns Betrachter wirft, lässt einen ratlos zurück. Zu offen ist der Eindruck, den sie mit nassen Haaren und Wassertropfen im Gesicht erweckt, vom Bad im See zurückgekommen. Es ist diese Ambiguität, aus der sich die Kraft der Porträts von Judith Joy Ross speist. Wohin uns ihre Bilder führen, bleibt anfangs unklar.
Als die Fotografin Ross Anfang der 80er-Jahre nach Weatherly, Pennsylvania, fährt, ist sie Mitte 30 und ihr Vater gerade verstorben. Der Moment, der bei vielen Menschen das eigene Groß- und Erwachsenwerden schlagartig ins Bewusstsein ruft, löst auch bei Ross – so scheint es – die Frage nach Aufwachsen und Adoleszenz aus. Eurana Park, der dort gelegene Badesee ihrer Kindheit, wird zum Startpunkt einer Reihe von fotografischen Serien, für die sie später bekannt wird.
Zwischen den ersten Freiheitsgefühlen alleine spielender Kinder, der Langeweile endloser Ferientage und dem Verliebtsein bei gleichzeitiger Unsicherheit im eigenen, noch wachsenden Körper liefert Ross in "Eurana Park" eine zeitlose Version der durch unzählige Coming-of-Age-Filme ikonisch gewordenen Bilder unserer Jugend. Das Gefühl, dass bestimmten, vermeintlich einzigartigen Lebensphasen und Situationen ein kollektives Erleben gegenüber gestellt werden kann, findet sich in vielen ihrer Werke. Doch gerade in den Widersprüchen, Sorgen und Hoffnungen, die sich in das Bild der erwachsen werdenden Schwimmerin hineinlesen lassen, erfährt das Zusammenspiel von individuellem Porträt und empfundener Allgemeingültigkeit einen passenden Ausdruck.
Konzentration und eine entschleunigte Arbeitsweise
Aufgewachsen in Pennsylvania, dem Staat, der für viele Jahre das Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit bilden wird, brauchte es nach ihrem Kunststudium in Philadelphia und Chicago einige Jahre intensiven Suchens nach der richtigen Ausdrucksform. In einer scheinbar aus der Zeit gefallenen 8-Mal-10-Zoll-Großformatkamera entdeckt Judith Joy Ross schließlich ein passendes Werkzeug.
Die Technik ist nicht unerheblich, ermöglichen doch aufwendig entwickelte Abzüge nicht nur die fein austarierten Tönungen ihrer Schwarz-Weiß-Bilder. Auch das langwierige Vorbereiten des Apparates und das benötigte Stativ prägen Ross' Interaktion mit ihrem Gegenüber, indem spontanes Abdrücken unmöglich gemacht wird. Die andächtige Konzentration ihrer Fotografien spiegelt sich in der entschleunigten Arbeitsweise – Ross' Porträts als Ruhepol in Zeiten beschleunigter Bilderproduktionen und -zirkulationen.
Genau wie in "Eurana Park" erwachsen die Themen ihrer nächsten Reihen fotografischer Intensiv-Begegnungen aus einer persönlichen Motivation. In "Portraits at the Vietnam Veterans Memorial" stellt sie um 1984 Besucher des damals in Washington eröffneten Mahnmals dar und gibt den Formen der Trauer einer disparaten US-amerikanischen Gesellschaft eine Gestalt. Angehörige der überproportional in Vietnam eingesetzten schwarzen Soldaten, Veteranen in Uniform, Jugendliche, sie werden in Ross' Arbeit zu Darstellern eines nationalen Aufarbeitungsprozesses.
Fotografie als Gesellschaftspanorama?
So einzigartig die Menschen auf Judith Joy Ross' Bildern auch sind, es stellt sich immer die Frage nach Symbolik und einer über die jeweilige Person hinausragende Aussagekraft. Noch im Zusammentragen ihrer Porträts in ein Serienformat steigern sich all die an die einzelnen Fotografien herangetragenen Bedeutungen zu einer Art Gesellschaftspanorama. In ihrer Widerstandshaltung gegenüber dem Vietnamkrieg beschäftigt sie sich nicht nur mit den Hinterbliebenen, sondern genauso mit den politischen Akteuren. Ab 1986 begegnete sie über zwei Jahre hinweg Senatoren und Abgeordneten, viele davon Unterstützer der amerikanischen Außenpolitik, für Aufnahmen in den künstlich ausgeleuchteten Büroräumen und Fluren des Kapitols. Ihre Arbeiten fragen: Wie lässt sich Verantwortung in einem Porträt fassen? Was für ein Bild entsteht von einem Politiker im Zusammenwirken repräsentativer Posen, fotografischer Zufälligkeiten wie einem verrutschten Blick, einer versehentlichen Handbewegung und dem Interpretationsdrang des Publikums?
In ihrer Beschäftigung mit der Bevölkerung der USA, den dort ausgetragenen Debatten und sich verschiebenden Stimmungen tritt Ross den Subjekten in ihrer künstlerischen Arbeit mit interessierter Offenheit gegenüber, ein Ausdruck ihrer persönlichen Einstellung findet nur vereinzelt in die Bilder. Ganz gleich, ob konservativer Politiker in West Virginia, jugendliche Basketballspieler im von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Philadelphia oder Indigene in Reservaten in New Jersey – allen widmet sich die Fotografin mit der gleichen Aufmerksamkeit und lässt damit Erinnerungen an das Vorbild August Sander und seine "Menschen des 20. Jahrhunderts" aufkommen. Ab 1925 konzipierte dieser mit wissenschaftlich anmutender Genauigkeit die fotografische Dokumentation verschiedener sozialer Schichten, Berufsgruppen und Personenkreise. Seine Bilder von Landarbeitern, Schauspielern und Co. präsentierte er als die deutsche Gesellschaft dieser Zeit in ihrer Breite abbildende Typen. In der stillen Konzentration auf ihr Gegenüber erinnern Judith Joy Ross unmittelbar an Sander.
Doch nur der Versuch, anhand der Versammlung vieler Einzelporträts die Identität eines ganzen Landes visuell zu vermitteln, wird ihrem Werk nicht gerecht. Vielmehr steht immer der Mensch und seine emotionale Grundbeschaffenheit im Vordergrund. Die Universalität des Zweifelns, Hoffens oder sich Sorgens sind die eigentlichen Themen von Ross' Serien – gar nicht so selten, wie im Fall der jungen Frau in "Eurana Park", sogar komprimiert in einem einzigen Bild.