Künstler Joshua Citarella

"Die Menschen bewegen sich weg von der Mitte und hin zu den politischen Rändern"

Was haben obskure Online-Ideologien mit der Wiederwahl Donald Trumps zu tun? Der Künstler Joshua Citarella untersucht politische Meme-Kultur und sagt: Die Kunst kann die Situation in den USA besser erklären als Journalisten

Was ist mit der US-Politik passiert? Joshua Citarella hat einmal gesagt, er sammele obskure Online-Ideologien wie andere Pokémon-Karten. Er hat die Aktivitäten von politischen Meme-Accounts auf Instagram beobachtet und mit ihren Protagonistinnen und Protagonisten gesprochen. Mittlerweile sind die erwachsen geworden, aber, so legt Citarella nahe, in diesen Nischen des Internets liegt der Schlüssel, um die Verschiebungen in der US-Politik zu verstehen. Im Interview spricht der Künstler über das Scheitern demokratischer Institutionen und das politische Erbe der Großväter des Internets.

 

Joshua Citarella, Ihre jahrelange Forschung über radikale politische Online-Subkulturen verdichtet die politischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte wie unter einem Brennglas. Was ist daran so faszinierend?

Ich bin Künstler, und ich interessiere mich für nischige Subkulturen, so, wie sie im Internet gedeihen. Gegenkulturen sind unbequem, subversiv und interessant, weil sie politischen Ballast mit sich bringen – denken Sie an die Verbindung von Punk und Anarchismus. Heute gibt es solche Subkulturen nicht mehr, und alles wird zu politischen Identitäten sublimiert. Junge Menschen spielen damit, und wenn man das beobachtet, kann man die großen politischen Veränderungen vorhersagen. Das funktioniert an beiden Enden des Spektrums: alberne Witze einerseits, aber es gibt eben auch Momente echter politischer Einsicht. 

In Ihrem Podcast haben Sie einige Protagonistinnen und Protagonisten der politischen Meme-Sphäre interviewt. Fügen sich die Puzzleteile irgendwann zu einer Bewegung oder gar einer Ideologie zusammen?

Ich habe mit jungen Menschen im Alter zwischen 13 und 22 Jahren gesprochen. 2018 habe ich dann das Buch "Politigram and the Post-left" geschrieben, dort habe ich mich mit Leuten von 12 bis 17 befasst. Man kann beobachten, wie diese Gruppe, die im Nachgang der Wahl vor acht Jahren politisiert wurde, erwachsen wird, aufs College geht, einen Beruf ergreift und wichtige Lebensentscheidungen trifft. Sie sind immer noch von den politischen Gemeinschaften geprägt, an denen sie als Teenager Teil hatten. Manche engagieren sich lokal, manche treten in die Nationalgarde ein, andere in kommunistische Organisationen. Die subkulturellen Strömungen haben sich in größeren Medien und politischen Organisationen zusammengefunden. Beispielsweise wurde die American Communist Party von zwei populären Content Creators gegründet. Einer davon, Jackson Hinkle, sprach im vergangenen Sommer auf einer Pressekonferenz bei der UN. Der Trend ist, dass sich die Menschen von der Mitte weg zu den politischen Rändern bewegen. 

Jackson Hinkle, der derzeit 2,8 Millionen Follower auf X hat, bezeichnet sich jetzt als MAGA-Kommunist. Er unterstützt Donald Trump, bewundert Wladimir Putin, und die UN-Veranstaltung, auf der er sprach, wurde von der ständigen Vertretung der Russischen Föderation gesponsert. Vor einigen Jahren sprach er sich noch für den linken Demokraten Bernie Sanders aus und war in der US-amerikanischen Umweltbewegung aktiv. Heute haben viele seiner Positionen wenig mit linker Politik zu tun. Wofür steht diese Post-Linke eigentlich?

Die Bedeutung hat sich verschoben. Zwischen 2016 und 2018 bezog sich der Begriff auf eine ganz bestimmte Interpretation von Anarchismus. Er bezeichnete eine Gruppe, die den Glauben an gewerkschaftliche Organisation verloren hatten; sie wollten zu einem dezentralen Anarchismus zurück. Ab etwa 2019 bezeichnet der Begriff ehemalige Bernie-Sanders-Unterstützer, die sich der Neuen Rechten angeschlossen haben. Zu den neuen Rechten wiederum gehört zum Beispiel der designierte Vizepräsident J.D. Vance oder der Programmierer und Publizist Curtis Yarvin. In dieser Bewegung sammeln sich ökonomischer Populismus und Tech-Libertarismus. 


Um alles zwischen der radikalen, individualistischen Freiheitsideologie des Libertarismus, den Rechten und den Linken darzustellen, hat sich der politische Kompass durchgesetzt, der selbst zum Meme geworden ist. Eigentlich eigenartig, über Politik in diesen vier Quadranten nachzudenken: links, rechts, autoritär und libertär. 

Der politische Kompass hat selbst eine Geschichte. Wir können ihn als albern abtun, ein Online-Spiel für Teenager. Dabei basiert das Diagramm auf etwa 50 Multiple-Choice-Fragen. Das geht zurück auf "The World’s Smallest Political Quiz", das der Politikwissenschaftler David Nolan im Jahr 1969 entworfen hat. Ende 1971 war er dann Mitbegründer der Libertarian Party of the United States. Der Mensch gilt in diesen Fragen immer nur als Individuum, nie als Teil einer solidarischen Gemeinschaft. Darin steckt schon ein ideologisches Projekt. Der Kompass ist ein ausgeklügeltes Instrument, um die großen politischen Debatten des 20. Jahrhunderts zu verstehen, und heute verdeutlicht er Unterschiede, die zwischen Linken und Rechten entstanden sind. Diese Aufschlüsselung politischer Identitäten öffnet das "Overton-Fenster" jenseits des Zweiparteiensystems in den USA. 

Diese Tabellen lassen aber auch keine widersprüchliche, dialektische Positionierung zu. 

Ihr Zweck ist, Menschen als Individuen zu isolieren. Wenn Sie und ich diesen Test machen und wir zwei Kästchen voneinander entfernt sind, bedeutet das nicht, dass wir Teil desselben politischen Blocks sind. Menschen sollen sich in diesem Weltbild als Individuen durch die Welt bewegen – eine zutiefst libertäre Perspektive. 

Sie haben Fahnen für diese Mikro-Ideologien gemacht, die kürzlich zum Beispiel in den Berliner KW in der Ausstellung "Poetics of Encryption" zu sehen waren. Ich schaue mir das gerne an und versuche zu erraten, welche Politik sich hinter den Flaggen verbirgt. Die "Don’t-Tread-On-Me-Schlange" der historischen Gadsden-Flagge aus der Zeit der amerikanischen Revolution deutet auf libertäre Tendenzen hin, Hammer und Sichel kommen ab und zu vor, anarchistische Symbole, arabische Schrift. Es gibt eine eigene Ikonografie. 

Eigentlich entwerfe ich diese Flaggen nicht selbst. Das ist gefundenes Material, und es entspringt der Aufmerksamkeitsökonomie des Web 2.0. 

Glauben Sie, dass einige dieser Nischen-Ideologien in den Mainstream eindringen? J.D. Vance wird ja als heterodoxer, also als "nicht-klassischer" Rechter betrachtet ...

Auf jeden Fall! 2016 ist das noch nicht passiert, aber Vance ist sehr eng mit der Online-Rechten und ihren Ideologien vertraut. Aber vielleicht noch einflussreicher ist Peter Thiel, der Mentor von Vance. 

Ich würde den Investor und Tech-Unternehmer Thiel eher mit der libertären Bewegung in Verbindung bringen. Führt ein Weg vom Libertarismus nach rechts?

In den letzten zehn Jahren hat eine klare Verschiebung von den Libertären aus dem Silicon Valley zum Nationalkonservatismus stattgefunden. Thiel sprach auf der National Conservatism Conference, neben arbeitnehmerfreundlichen Republikanern. Die Wirtschaftspolitik in diesen Kreisen ist libertär, man tritt für harte Grenzen ein, und hält wenig vom Wohlfahrtsstaat. 


2016 liefen die Schockwellen der Trump-Wahl durch die ganze Kultur – auch international. Wie wird sich die Wiederwahl auswirken?

Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber die Liberalen hatten 2016 die Hosen voll. Russland hat die Wahl manipuliert, Fake News – sie hatten eine ganze Reihe von Ausreden. Jetzt war die Wahl nicht so knapp, Trump hat sogar die popular vote gewonnen, er hat bei people of color zugelegt, genauso sowie bei anderen Gruppen, die historisch eher Demokraten wählen. Die alten Narrative brechen zusammen. Die Menschen haben aufgrund ihrer wirtschaftlichen und sozialen Abwärtsmobilität jemanden gewählt, der versprochen hat, Dinge radikal zu ändern. Trump spricht die Ängste und die Wut der Wähler an.

In Ihrer YouTube-Sendung "Doomscroll" haben sie mit jemandem aus diesem neuen Prekariat gesprochen: Caleb Cain, der aus den Appalachen stammt, übrigens genauso wie J.D. Vance. Der junge Mann wurde berühmt, als die "New York Times" ihn im Podcast "Rabbit Hole" als Fallbeispiel für Radikalisierung durch YouTube und seine Empfehlungsalgorithmen porträtierte. 

Das war ein schwieriges Gespräch. Wir wollten Caleb die Chance geben, seine Geschichte zu erzählen – ohne, dass ein Journalist sie interpretiert. Ich habe eine persönliche Beziehung zu ihm, und er kann darauf vertrauen, dass er nicht zensiert wird, auch, wenn ich nicht allem zustimme. Die Erzählung der "New York Times" besagt, dass YouTube ihn zu rechten Ideen gebracht hat, dass er dann durch die besseren, liberalen Ideen wieder zurückgefunden hat. Das lässt aber ein größeres politisches und wirtschaftliches Problem außer Acht. Caleb ist zutiefst skeptisch gegenüber den etablierten Medien, den Demokraten und Trump. Er sieht eine Krise des amerikanischen Lebens. Viele Menschen wie er sind auf der Suche nach einer Alternative, die es aber nicht gibt. 

Sie arbeiten in verschiedenen Medien: einem Newsletter auf Substack, Podcasts, eine YouTube-Sendung. Wer ist eigentlich Ihr Publikum?

Das hat sich in den letzten Monaten geändert. Den Podcast habe ich 2020 gestartet, und in den letzten vier Jahren habe ich dieselben zehntausend Personen erreicht – ein sehr spezialisiertes Publikum aus der Kunstwelt, Journalistinnen, Wissenschaftler. Als wir unseren neuen Podcast "Doomscroll" mitsamt einer Videoversion auf YouTube gestartet haben, sind unsere Zuschauerzahlen um ein Vielfaches gestiegen. Das Publikum ist weniger spezialisiert, wir müssen einige theoretische Referenzen erklären. 

Ein Thema, das sich durch ihre Arbeit zieht, ist die Schwächung von akademischen Institutionen und den etablierten Medien. 

Die Lösung für das Versagen dieser Strukturen, so sagen manche, sind die Plattformen: Die Unzulänglichkeiten der "New York Times" sollen durch unabhängigen Qualitätsjournalismus auf Substack korrigiert werden. Ich bin da sehr vorsichtig. Wenn man in dieser unabhängigen Mediensphäre arbeitet, gibt es eine Aufmerksamkeitsdynamik, die bestimmte Dinge begünstigt: Empörung, Sensationslust, schlechte Recherche, polarisierende Geschichten. Wir sollten den bröckelnden Institutionen aber mit dem Aufbau neuer, legitimer Institution begegnen. Plattformen führen zu einem noch schlechteren Medien-Ökosystem. Ich unterrichte an der Rhode Island School of Design, und die Sprache, mit der die politisch engagierten jungen Menschen ausgestattet sind, zielt auf den Kampf gegen Hierarchien und Institutionen – oft merken sie gar nicht, dass sie indirekt für die Plattformen eintreten, die gerade sehr effektiv die Institutionen verdrängen. Das alte Medienmodell ist im Niedergang. Wirtschaftlich trägt es nicht mehr. Journalisten und Journalistinnen verlassen die Zeitungen und gehen zu Substack oder starten Podcasts. 

Was stimmt denn mit den Plattformen wie Instagram, YouTube, X und neuerdings Substack nicht?

Hier gilt die gleiche Philosophie, die auch im politischen Kompass steckt. Die Ideen rund um das frühe Internet waren libertär: Wir bauen ein riesiges globales Netzwerk aus einzelnen Computern auf, um einen Markt aus atomisierten Individuen zu schaffen. Das schreibt schon John Perry Barlow, wenn er über cyberutopische Träume von der "Flucht aus dem Industriezeitalter" spricht. Diese Denker des Digitalen waren nicht an einem solidarischen, linken Modell der Organisation interessiert. Die Plattformen sind deshalb auch nicht neutral. 

Barlow war eng mit den Grateful Dead und der Hippiekultur verbunden, bevor er die Philosophie dessen prägte, was das Internet werden sollte. So eine intellektuelle Karriere ist wahrscheinlich nur in den USA möglich. 

Wir Amerikaner sind schuld – es tut mir leid!

Wie trägt das Internet Mitschuld am Niedergang der Universitäten und Medieninstitutionen?

Fairerweise muss man sagen, dass die Institutionen in den USA schon immer schwach waren. Aber um 1980 kippt es, als der Neoliberalismus vorherrschend wurde. Vor dem neoliberalen Wirtschaftsmodell gab es eine höhere Lohnuntergrenze und niedrigere Lebenshaltungskosten. Deshalb konnten Menschen mit unterschiedlichem ökonomischen Hintergrund an Medien und akademischen Institutionen teilhaben. Man musste nicht so viel verdienen, um die Miete zu zahlen und Essen auf den Tisch zu bringen. Ab 1973, als Produktivität und Löhne in den USA sich erstmals auseinander bewegten, wurde die Teilhabe teuer. Höhere Bildung war zunehmend nur für Reiche zugänglich, und die Klasseninteressen dieser Personen haben Institutionen verändert.

Sie sprechen von Klassenfragen, während die Medien die Links-Rechts-Unterscheidung in der US-Politik infrage stellen. Nach der erneuten Trump-Wahl geht es oft weniger um Klasse, sondern beispielsweise darum, ob Menschen auf dem Land oder in der Stadt leben. 

Ich würde dem zustimmen. Es gibt auch die Kluft zwischen den Geschlechtern und ein Bildungsgefälle. Das sind richtige Beobachtungen, aber ich will zur Unterscheidung von Links und Rechts zurück. Wir können uns um die Themen Bildung, Geschlecht, Land und Stadt kümmern, aber die Probleme werden immer schlimmer, wenn wir den grundlegenden Konflikt nicht sehen, nämlich Arbeit gegen Kapital. 

Wie sind Sie von der Post-Internet-Kunst zu solchen politischen Untersuchungen gekommen?

Es ist ein bisschen seltsam – ich habe ja gerade Arbeiten in mehreren Museumsausstellungen, ich nehme also aktiv an der Kunstwelt teil. Aber ich habe eben auch diese Rolle, über Memes und Politik zu sprechen, darüber, wie Kultur in die Neuordnung der Politik im 21. Jahrhundert einfließt. Dort kann man die ganze erlernte Medientheorie anwenden – unsere gesamte Kultur ist zur Netzpolitik geworden. Das ist auch ein seltenes Beispiel dafür, dass Kunst in der übrigen Gesellschaft tatsächlich von Bedeutung sein kann. Die Erkenntnisse aus der Kunstwelt erklären die politischen Ergebnisse besser als viele Journalisten. 

Wie halten Sie es in Ihrer Arbeit mit der kritischen Distanz? Was unterscheidet Sie von akademischen Forschenden?

In der Forschung zu politischem Extremismus arbeitet man maximal sechs Monate an einem Thema. Wenn man sich acht Stunden täglich, fünf Tage in der Woche mit diesem Material befasst, hat das seinen Preis. Man muss seine Zeit damit begrenzen. 

Sie schauen sich nicht acht Stunden am Tag Memes an?

2017 habe ich das vielleicht noch gemacht. Aber jetzt verbringe ich viel mehr Zeit mit "Do Not Research", einer Publikationsplattform für Kunst und Texte. Ich spreche über meine Beobachtungen. Ich glaube, keine Journalistinnen oder Journalisten haben sich so lange mit diesen Themen beschäftigt. Aber manchmal ist diese Arbeit sehr aufschlussreich. Mir liegen diese jungen Menschen auch einfach am Herzen, und ich möchte sehen, wie es ihnen geht. Sie bedeuten mir sehr viel.