Bereits zur Totenmaske abgemagert, hielt Joseph Beuys am 12. Januar 1986 im Lehmbruck-Museum in Duisburg seine letzte Rede. "Ich möchte meinem Lehrer Wilhelm Lehmbruck danken", hob der 64-Jährige an. Lehmbruck sei derjenige gewesen, der ihn einst dazu gebracht habe, sich der Kunst zuzuwenden. Bis heute gibt diese Darstellung Rätsel auf: ein Bildhauer aus dem Kaiserreich als Hauptinspirationsquelle für den radikalen Erneuerer der Nachkriegszeit? Im Beuys-Jahr 2021 versuchen nun zwei parallele Ausstellungen in der Bundeskunsthalle in Bonn und im Lehmbruck-Museum in Duisburg das Rätsel zu lüften.
Auf den ersten Blick verbindet die beiden Künstler höchstens, dass sie Niederrheiner sind. Lehmbruck lebte von 1881 bis 1919, Beuys von 1921 bis 1986. Lehmbruck schuf menschliche Plastiken mit überlangen Gliedmaßen und nach innen gekehrtem Blick, Beuys, der Mann mit Filzhut und Anglerweste, erweiterte den Kunstbegriff wie wohl kein anderer und erzielte vor allem mit Installationen und Aktionen Riesenaufmerksamkeit. Worin also soll der überragende Einfluss von Lehmbruck bestehen?
Beuys hat es in seiner Rede selbst zu erklären versucht. Ein Grund für die von ihm empfundene Seelenverwandtschaft war, dass Lehmbruck kurz vor seinem Suizid 1919 - er war schwer depressiv - einen Aufruf des Waldorf-Philosophen Rudolf Steiner (1861-1925) unterschrieben hatte. Steiner war das große Idol von Beuys, dessen Ideen er lebenslang über die Kunst zu verbreiten suchte. In dem Aufruf von 1919 führte Steiner die Katastrophe des Ersten Weltkrieges darauf zurück, dass man der Kultur zu wenig Raum gegeben habe.
Ein Innenton, den jede Skulptur in sich trägt
Der Steiner-Bezug war aber nicht das Einzige, was Beuys faszinierte. Lehmbrucks Skulpturen seien "eigentlich gar nicht visuell zu erfassen", führte er in seiner Rede aus. Man müsse sie "hören". Das sei nicht im Sinne eines akustischen Signals gemeint, erklärt die Kuratorin der Bonner Ausstellung, Johanna Adam, "sondern er beschreibt das als Innenton, den jede Skulptur in sich trägt". Manche Forscher glauben, dass Beuys ähnlich wie Goethe Synästhet gewesen ist: ein Mensch, der Sinneseindrücke miteinander verschränkt, der zum Beispiel bestimmten Zahlen unwillkürlich bestimmte Farben zuordnet. So sprachen Lehmbrucks Plastiken Beuys wohl auf mehreren Ebenen an, vor allem auch ganz intuitiv und emotional.
Ein Schlüsselwerk Lehmbrucks ist der "Kopf eines Denkers", eine Büste, die den Prozess des Denkens verkörpert. Der Schädel des dargestellten Mannes ist merkwürdig überbetont und in die Länge gezogen. "Das ist ein großes Thema bei Lehmbruck in fast allen seiner Werke: Es geht ihm um das menschliche Potenzial des Denkens, um die Kreativität", sagt Söke Dinkla, die Direktorin des Lehmbruck-Museums, der Deutschen Presse-Agentur. "Ich glaube, dass es das ist, was Beuys am meisten interessiert hat." Beuys war davon überzeugt, dass die Kunst das Denken und damit auch die Gesellschaft verändern konnte.
Durch Lehmbruck sei er "zu der Idee der sozialen Plastik regelrecht getrieben" worden, erklärte Beuys in seiner Rede. Die soziale Plastik war sein wichtigstes Konzept. Als solche verstand er zum Beispiel die 7000 Eichen, die er 1982 bei der Documenta in Kassel pflanzte und die das Leben der Menschen zum Besseren verändern sollten.
Geringe stilistische Parallelen
Sowohl die Ausstellung in Bonn als auch die in Duisburg bemühen sich darum, diese inhaltlichen Bezüge zwischen dem Werk von Beuys und Lehmbruck zu verdeutlichen. Stilistische Übereinstimmungen gibt es höchstens im zeichnerischen Werk, ansonsten sind die Stilmittel der beiden Künstler radikal verschieden.
Darüber hinaus bietet sich die Gelegenheit, im Jahr seines 100. Geburtstags zentrale Werke von Beuys zu erleben, so etwa in Bonn die "Honigpumpe am Arbeitsplatz", die er 1977 auf der Documenta präsentierte, und die ein Jahr zuvor für die Biennale in Venedig geschaffene "Straßenbahnhaltestelle". In Duisburg ist unter anderem die Installation "Hirschdenkmäler" zu sehen.
Lehmbruck sei schließlich "durch das Tor des Todes seiner eigenen Skulptur hindurchgegangen", sagte Beuys in seiner Rede. Nur elf Tage später erlag er selbst seiner Lungenkrankheit.