Jon Rafman, Ihre Arbeit "Dream Journal" erinnert mich an einen Traum.
Mit dem Video möchte ich das kulturelle Unbewusste erkunden. Es basiert auf meinen Träumen, automatischem Schreiben und freier Assoziation. Das ergab einen Text.
Wie ging das?
Aus dem Quelltext sind dann maßgeschneiderte surrealistische Animationen entstanden. Dabei habe ich mich gefragt: Strukturieren wir die Welt oder strukturiert die Welt uns?
Wie wollen Sie das rausfinden?
Indem ich versuche, ein lebendes Gefäß für die Träume des Internet zu sein. Ich benutze einen naiven Animationsstil, denn so kann ich schnell und schmutzig arbeiten, und ich habe die fertigen Animationen in einer Woche zurück. Es war wichtig, augenblicklich auf unsere superbeschleunigte Welt antworten zu können. Am Ende wurde das zu einer Hieronymus-Bosch-artigen Vision der Gegenwart. Es ist eine absurde Welt, voller mittelalterlicher Enthüllungen und Exzesse.
Die Arbeit erzeugt einen unglaublichen narrativen Sog.
"Dream Journal" begann als eine On Kawara-artige Dokumentation meiner Träume — ein Datum, dann die Traumsequenz des Tages. Ich benutzte diese Methode ungefähr ein Jahr lang. Dann wurde mir klar, dass das als langer Film nicht funktioniert.
Wie haben Sie das Problem gelöst?
Ein Jahr lang habe ich einzelne Träume dokumentiert und animiert, dann habe ich das alles zu einem narrativen Film kombiniert. Ich wollte nicht zu viel Plot, nur das Nötigste, damit die Zuschauer in eine lange, traumartige Trance geraten. Auch wenn die Logik absurd scheint, gibt es eine innere Kohärenz. Ich musste die Erzählung auf eine einzelne Figur konzentrieren.
Das ist ja wie eine Rittergeschichte: Die Hauptfigur macht etwas, bekommt eine Belohnung und kann ihren Weg fortsetzen.
Der Film benutzt eine Struktur, die der Mythologe Joseph Campbell die Reise des Helden nennt. Das ist, nach Campbell, eine der ältesten Erzählstrukturen menschlicher Kultur überhaupt. Diese Erzählform braucht einen Helden, der auf ein Abenteuer geht, einen Sieg erringt und verändert nach Hause zurückkehrt.
Das ist in "Dream Journal" aber anders.
Ja, das unterscheidet sich davon, weil es kein Zuhause gibt. Das Internet verstärkt diesen Zustand. Ich merke diesen Zustand permanenter Obdachlosigkeit ja auch. Die Heldin in "Dream Journal", Xanax Girl, kann nicht aus ihrem Traum aufwachen wie Dorthy in "Der Zauberer von Oz", um nach Hause zurückzukehren. Es gibt nur Träume in Träumen in Träumen. Die Realität ist instabil. Das Gefühl, in einer Geschichte, in einem Zeitfluss oder in einer Identität verwurzelt zu sein, ist verschwunden. Es gibt kein Zuhause.
Georg Lukács sagte einmal: "Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und der zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt." Die Zeiten sind vorbei. Das nennt er die transzendentale Obdachlosigkeit — eigentlich ein ganz modernes Gefühl.
In "Dream Journal" will ich genau diese Stimmung ausdrücken. Das ist kein neuer Zustand. Aber das Internet gibt Künstlern ein reiches neues Vokabular für dieses Gefühl.
Für Ihre Videoinstallationen "Mainsqueeze" und "Betamale" haben Sie das Internet nach pornografischem, schockierendem, brutalem Bildmaterial durchsucht. War das nicht deprimierend?
Lassen Sie es mich anders formulieren. Ich suche wahrheitsgemäße Bilder der Gegenwart. Die Videos sind Collagegedichte, entstanden aus meiner Internetnutzung. Sie drücken eine Reihe von Emotionen aus, abstoßend und schön. Es gibt Brutalität, aber für manche Menschen liegt in den abstoßendsten grotesken Bildern auch ein ästhetisches Vergnügen. Das Sinnliche steckt im Schrecklichen, Horror und Erotik sind nah beieinander.
Wie bei Baudelaire. Der hat die Schönheit im Abstoßenden gefunden.
Ja. Dekadente Kunst wird gemacht, indem man vereinfachte Vorstellungen von Fortschritt und unkritischen Idealismus ablehnt. Um die Wahrheit zu sagen, muss man die paradoxen Qualitäten unserer Existenz einfangen. Man muss sich begeistern für Wahnsinn und Unvernunft, Perversion und Zynismus gegenüber kulturellen Institutionen und für die Überlegenheit der Kreativität über Logik und Natur.
Leben wir in dekadenten Zeiten und das Internet liefert den Beweis dafür?
Der Spätkapitalismus ist an sich dekadent. Aber unsere Gegenwart ist nicht nur dekadent. Es gibt diesen Puritanismus, auch in ideologischen und religiösen Haltungen. Als gäbe es immer weniger nuancierte Positionen im Massendiskurs. Viele sind sich sicher, dass sie genau wissen, was gut und böse ist.
Welche Rolle haben Sie als Künstler?
Ich habe mich früher als ein Cyber-Flaneur gesehen: immer interessiert, die virtuelle Welt um mich herum zu erkunden. In letzter Zeit arbeite ich an der Erkundung des Selbst — aber nicht unbedingt von mir selbst. Mein Fokus liegt darauf, das Unbewusste in Medien und Gesellschaft zu erfassen. Was stellen die täglichen Erlebnisse eines Internetsüchtigen mit seinem Unbewussten an?
Es liegt viel Produktivität in der Dekadenz des Internets.
In der Frühzeit der Internetkunst gründete sich der Optimismus genau darauf. Mich treibt an, was sonst noch passiert: die Schrecken der Polarisierung, der Hass, das Verlangen nach Gewalt. Vielleicht nicht nach physische Gewalt, aber definitiv nach verbalen Angriffen — das ist die Realität im Internet. Je mehr man das unterdrückt, desto schrecklicher sind die Formen, in denen es zurückkehrt.