Unsere hyperbeschleunigte Gegenwart spiegelt sich in Akronymen wie YOLO (You Only Life Once) oder FOMO (Fear Of Missing Out). Und sie findet vielleicht nirgends einen krasseren Widersatz als in der Burchardikirche in Halberstadt. Dort ist ein auf exakt 639 Jahre angelegtes Orgelstück des amerikanischen Komponisten und Avantgardekünstlers John Cage (1912–1992) zu erleben.
Es trägt den Titel ORGAN²/ASLSP (As SLow aS Possible). Und es revolutioniert unser Musikverständnis. Halberstadt hat schon einmal Orgel- und Musikgeschichte geschrieben, als im Jahr 1361 die wahrscheinlich erste Großorgel mit
einer zwölftönigen Klaviatur eingeweiht wurde. An dieser Jahreszahl orientiert sich auch die Cage-Aufführung: Mit der Jahrtausendwende als Spiegelachse wurde die Dauer auf 639 Jahre festgelegt.
Am 5. September 2000, Cages 88. Geburtstag, startete das Projekt. Ein Jahr später trat der Blasebalg in Aktion, 2003 erklangen die ersten Pfeifen auf der Orgel. 2006 fanden zwei Klangwechsel in einem Jahr statt, seit 2012 erklangen nur die beiden 16-Fuß-Basspfeifen c' und des'. Am 5. Oktober 2013 wurde das Ganze zu einem Fünfklang ergänzt, der sich bis zu Cages 108. Geburtstag in diesem Jahr nicht geändert hat.
Am Wochenende ist nun der 14. Klangwechsel bei dem Kunstprojekt vollzogen worden. Zu den bisherigen fünf Pfeifen c'(16'), des'(16'), dis', ais' und e'' kommen zwei neue Pfeifen hinzu: gis und e. Dieser Klang währt bis zum 5. Februar 2022. Dann fällt das gis wieder weg. Wenn alles wie geplant läuft, dauert die Aufführung des Stückes bis zum Jahr 2640. Wir sagen OMG (Oh My God) – und raten zu einem ausgedehnten Besuch!