Der Vorrat an Ungerechtigkeiten und Monstrositäten dieser Welt hat sich als ziemlich unerschöpflich erwiesen. Das kann einen Menschen in die Verzweiflung treiben - oder in ein Jahrzehnte umspannendes künstlerisches Werk, in dem die Themen niemals knapp werden.
Die US-Amerikanerin Jenny Holzer, geboren am 29. Juli 1950 in Ohio, hat ihre Karriere auf der Macht von Worten aufgebaut. Seit den 70er-Jahren klagt die Künstlerin Machtmissbrauch und soziale Ungleichheit in einprägsamen Einzeilern an. Ihre "Truisms" (in etwa: Binsenweisheiten) sind Monumente der Unzufriedenheit, die als Lichtbuchstaben auf Gebäude projiziert werden, oder sich auf Plakaten und Plaketten, auf Werbeflächen und in Marmorbänken materialisieren. Seit 2016 arbeitet sich Holzer wieder verstärkt an der US-amerikanische Tagespolitik ab und warnt auf Postern, LKW-Planen und Skateboards vor der Wiederwahl des US-Präsidenten Donald Trump. "Ich bin fassungslos, ängstlich und angewidert", sagte die Künstlerin im "Guardian" über die aktuelle Regierung ihres Heimatlandes. Nun wird sie 70 Jahre alt.
Jenny Holzer studierte zunächst Kunst an der Rhode Island School of Design und nennt sich rückblickend eine "schlechte Malerin". Erst als sie 1976 nach New York zog und an einem Studienprogramm des Whitney Museums teilnahm, entdeckte sie Buchstabenbilder als künstlerisches Ausdrucksmittel. Für ihre ersten konzeptuelleren Arbeiten brach sie Erkenntnisse aus akademischen Texten auf einfache Botschaften herunter ("Romantic love was invented to manipulate women") und tapezierte Manhattan zuerst anonym mit ihren schlichten, prägnanten Postern. "Am Morgen danach bin ich dann herumgeschlichen und habe nachgeschaut, ob irgendjemand davor anhält", erzählte sie dem "Guardian". "Das ist der Test für Straßenkunst - zu sehen, ob jemand anhält. Die Menschen haben diejenigen durchgestrichen, die sie nicht mochten, und die anderen mit einem Sternchen versehen. Ich mochte, dass die Menschen mit den Postern interagiert haben." Später bespielte sie den Reklame-Himmel des Times Square und füllte ganze Räume und Hausfassaden mit leuchtendem Text.
Geliebt innerhalb und außerhalb der Blase
Sie wolle Worte verwenden, die alle Menschen verstehen, erklärt Jenny Holzer immer wieder - nicht nur die Bevölkerung der Kunstweltblase. Doch auch die Blase liebt ihre Kunst. 1990 war sie die erste Frau, die die USA auf der Biennale von Venedig vertrat. Sie gewann für ihre Installation aus Nachrichten-Tickerbändern mit politischen Botschaften einen Goldenen Löwen.
In über 40 Jahren sind in Holzers Arbeit zwischen Poesie und Aktivismus tausende von Kunst-Sätzen entstanden, aus denen einige wenige immer wieder als sharable content in die sozialen Medien und damit in die politische Realität getragen werden. Die Maxime "Abuse of Power Comes As No Surprise" wurde in den vergangenen Jahren ein Schlachtruf der #MeToo-Beweung und brachte den eigenen Hashtag #notsurprised hervor, unter dem vor allem Frauen über sexuelle Übergriffe und Machtmissbrauch im Kunstbetrieb berichteten. Auf der Berliner Museumsinsel prangt seit diesem Frühjahr eine Plakette mit der Aufschrift "Men Don't Protect You Anymore". Es sind vor allem die einfachen, gut verdaulichen Botschaften, die das Image Jenny Holzers heute prägen und sie zu einer Patronin des zeitgenössischen feministischen Aktivismus machen (der sich zum großen Teil noch mit denselben Anliegen beschäftigen muss wie zum Beginn von Holzers Karriere).
Protest als hübscher Hintergund?
Komplexere Slogans ("Bodies lie in the bright grass and some are dead and some are picknicking") haben es dagegen schwerer, im kollektiven Gedächtnis hängenzubleiben. Und so geht zunehmend die Anerkennung der Mehrdeutigkeit verloren, die in den "Truisms" angelegt ist. Schon der Titel "Binsenweisheiten" legt nahe, dass sich die Künstlerin dem schmalen Grat zur Banalität bewusst ist, auf dem sie mit ihren Werken balanciert. Die Zuspitzung und ständige Wiederholung von Worten kann nicht nur machtvoll sein, sondern die Sprache auch aushöhlen und Protest zur dekorativen Kulisse machen.
Dass Jenny Holzer zum Jahreswechsel 2019/2020 das schicke Palace Hotel im Reichen-Retreat Gstaad in den Schweizer Alpen mit Slogans wie "Money Creates Taste" bespielt hat, kann man als Beispiel dafür lesen, wie sich das geldgesättigte Segment des Kunstbetrieb seine Kritikerinnen einverleibt. Die "Truisms" sind hier keine Störung, sondern willkommene Generierung von kulturellem Kapital für die Geld-Elite von Gstaad. Auch im Louvre Abu Dhabi, für das Jenny Holzer ein Werk mit mehrsprachigen Texten zur "Einheit und Vielfältigkeit der Menschheit" beigesteuert hat, bleibt es im Kontext eines autoritär regierten Landes ziemlich universell und bequem.
Am stärksten sind die uneindeutigen Werke
Doch wer Jenny Holzer auf ihre Einzeiler reduziert, übersieht die formale Komplexität ihres riesigen Werks. Stets experimentierte sie mit der Erweiterung des Bildbegriffs, nutzte als eine der ersten Künstlerinnen die Medien der Massenkommunikation und LED-Schrift. Holzer eignet sich ohne viel Respekt das visuelle Vokabular der politischen und wirtschaftlichen Macht an, um genau diese wieder zu demontieren. Zu ihren stärksten Arbeiten gehören die "Redaction Paintings", bei denen sich die Künstlerinnen Anfang der 2000er mit amerikanischen Dokumenten über Kriegs- und Geheimdiensteinsätze beschäftigte. Ein Großteil der Schriftstücke ist geschwärzt, was die Akten zu ungewöhnlichen Verwandten der abstrakten Minimal-Malerei macht.
Die zensierten Blöcke auf dem Papier, die Holzer zum Teil bunt einfärbt, suggerieren in diesem Fall die Abwesenheit von Sprache und Information. Ein kluger Kommentar zum brutalen "War on Terror" der USA nach den Anschlägen vom 11. September, aber gleichzeitig ein subtiles Ready-Made, das durch seine Kraft gerade durch seine unterkühlte Form entfaltet.
Jenny Holzers Kunst ist am besten, wenn sie uneindeutig bleibt. Vielleicht ist das der Kampf einer Künstlerinnenkarriere: So konkret auf Ungerechtigkeiten hinzuweisen, dass man verstanden wird, aber gleichzeitig so ambivalent zu bleiben, dass das Werk ein Geheimnis bewahrt. Holzer steht in ihrem unermüdlichen Hinweisen auf menschliche Unzulänglichkeit für eine Kunst, die sich einmischt und für die Sichtbarkeit ihrer Anliegen die Gefahr der Vereinnahmung in Kauf nimmt. Und sie steht für eine Öffentlichkeit, die die Eindeutigkeit der Widersprüchlichkeit vorzieht.