SMS (oder zumindest SMS-ähnliche Nachrichtendienste) sind unangefochten unser primäres Medium, um mit unseren Mitmenschen zu kommunizieren. Über Whatsapp, iMessage, Instagram DMs oder Facebook Messenger plaudern wir über Alltägliches, erteilen Ratschläge, haben Streit, bekunden Mitleid, gestehen Liebe. Vertieft in unsere Bildschirme laufen wir oft abgelenkt durch den Alltag. Diesen Umstand nutzt der Künstler Jeff Mermelstein und schaut uns frech in die Karten. Seit Jahren macht der Street-Fotograf heimlich Fotos der SMS-Nachrichten von Menschen in New York, die er erst auf Instagram gesammelt und nun in einem Buch veröffentlicht hat.
Die Bilder offenbaren intime Momente der ansonsten völlig fremden Personen. Darf Mermelstein einfach so dokumentieren, wie jemand auf die Nachricht reagiert, dass er Vater wird? Oder erweitert sich das persönliche Recht auf Privatsphäre auf unsere Bildschirme, selbst wenn wir im öffentlichen Raum unterwegs sind? Etwas fragwürdig ist die ethische Komponente von Mermelsteins Voyeurismus schon, gerade wenn man sich vorstellt, wie nah er seinen Subjekten wohl kommen muss, um die Snapshots zu ergattern.
Der Fotograf versucht, das moralische Dilemma mit einfachen Bearbeitungstools zu umgehen. Jegliche Hinweise auf die Identität der Personen werden ganz einfach aus dem Bild geschnitten. "Selbst wenn die Rechtsgrundlage solide ist, wollte ich dennoch versuchen, so gut es geht ein Gefühl der Anonymität zu wahren“, erklärt Mermelstein auf "Artnet".
Gegensatz zur Instagram-Perfektion
Die Fotos funktionieren auch ohne zugehörige Gesichter. Ist sowieso viel spannender, sich mögliche Charakterzüge der Autoren an ihrer Emoji-Wahl, gerissenen Bildschirmen oder mehr oder weniger manikürten Nägeln herzuleiten. Gerade in einer Stadt wie New York, die von der Anonymität der Masse lebt, faszinieren die Einblicke in solch unpolierte, bizarre, witzige und tiefgründige Handy-Gespräche, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren. Und auch zur durchinszenierten Instagram-Welt, in der anscheinend für alle immer alles perfekt läuft, ist das ein erfrischend ehrlicher Gegensatz. Da muss schon erst einmal jemand Voyeurismus betreiben, um einen realen Augenblick zu erhaschen.
Wo man normalerweise so schön mit sich selbst beschäftigt ist, ganz Protagonist im eigenen kleinen Film, wirken unsere Sitznachbarn in der U-Bahn gern mal wie halbgare Statisten für unser Drama, unseren Krimi, unsere Romanze. Mit ihrer Intensität und Intimität durchbrechen Mermelsteins Fotos diese Bubble und wecken Neugierde. Ein bisschen so, wie wenn man mit Blick auf die gewaltige NYC-Skyline plötzlich realisiert, dass hinter jedem der leuchtenden Fenster-Vierecke Individuen leben, die in ihren Geschichten selbst die Hauptfigur spielen.