In der Pandemie, dieser Turbo-Treiberin des Digitalen, gerinnt alles zum Bild. Wo zitternde Lautsprecher und Leiber vor Ort fehlen, weil schon wieder niemand vor Publikum performen kann, setzen Filme die Phantasie in Schwingung. Auch beim 56. Jazzfest Berlin, dem Topptermin für die Avantgarde und für die beteiligte Rundfunkanstalten in Deutschland. Es ist die dritte Ausgabe der Leiterin Nadin Deventer, die sagt: "Wir planen das Jazzfest seit März hybrid, also digital und auch live. Bis zuletzt haben wir zwar gehofft, dass unsere 27 Konzerte in den insgesamt acht Städten auch vor Publikum stattfinden können."
Jetzt können sie schon froh sein, selbst ohne Publikum überhaupt Konzerte spielen zu dürfen - der Berliner Kultursenator hat auf der Pressekonferenz vor dem zweiten Lockdown darauf hingewiesen, dass Proben erlaubt seien. Und wo das Publikum fehlt, kann man von Proben sprechen. Doch dass dieses Festival starke audiovisuelle Elemente enthalten sollte, "das haben wir von Anfang an geplant", so Deventer.
Da geht es um mehr als Streams, obwohl die Zahlen da beträchtlich sind: Acht regionale Konzerte in den Räumen der öffentlich-rechtlichen Radios, sechs Konzerte aus dem Club Roulette in Brooklyn, New York City, sowie sechs aus dem Kulturquartier Silent Green in Berlin-Wedding werden übertragen. Wo die DJ-Sets aus den Clubs im Frühjahr mit minimalsten Mitteln auskommen mussten und somit den Eindruck von Grabreden auf die Dance Culture noch verstärkt haben, nimmt das vom Bund finanzierte Jazzfest das große Besteck in die Hand. Das Programm an vier Tagen kommt für einmal ohne die ganz großen Namen aus, investiert aber viel Technik, um die Musik gut aussehen und auch klingen zu lassen. Das Jazzfest Berlin ist erkennbar Künstler*innenhilfe. Und die muss gut aussehen. Das heißt auch: anders aussehen.
Nach Sparten wird nicht mehr unterschieden
In der Programmschiene "Off Stage" stehen neun Videos online, die mit abgefilmtem Jazz nichts mehr zu tun haben. Das Berliner Kim Collective hat gleich drei Arbeiten produziert - in einem leerstehenden alten Hotel, im Stadtraum und am Originalschauplatz des Jazzfestes, der nun nicht genutzt werden kann, weil zu groß. "It’s the End of the World (as We Know It)" zeigt das Haus der Berliner Festspiele als einen postapokalyptischen Tatort. Teile der Bühne und des Zuschauerraums sind in Plastik eingehüllt, als lägen da Leichen, oder als müsste ein Alien isoliert werden. Alles flackert gespenstisch, Publikum ist keins zu sehen. Das Verbrechen: die Versammlung von Menschen? Dazu grummelt es elektronisch, Saiten werden gekratzt, die Blättchen von Saxophonen flattern, zwei Schlagzeuger improvisieren. Es ist, als würde die improvisierte Musik das Bild vertonen, und nicht umgekehrt.
Die Saxofonistin Matana Roberts lässt in "Stay True…" eine schwarzweiße Sternstruktur flackern, die sich manchmal rot verfärbt. Die Saxofone und Sirenenstimmen überlagern sich zu einem Trauerchor schwarzer Frauen, die in der Konfrontation mit "state sanctioned violence" umgekommen sind. Und Jason Moran spielt in sechs Minuten ein paar abstrakte Bluesminiaturen, die er als Vertonungen von Sprichwörtern versteht, die über rassistisches Leid hinweg helfen sollen. Spätestens jetzt merkt man, wie sehr Jazz seit einer Weile viel mehr ist als interessante Musik. Jazz ist schon lange wieder Teil der Bildermaschine, die für emanzipatorische Bestrebungen und Gleichberechtigung steht. Jason Moran ist ein gutes Beispiel
Der schwarze New Yorker Pianist spielt in einer Liga, die sowieso nicht mehr nach Sparten unterscheidet. Kunst, Jazz, Installation, Ausstellung: whatever. Okwui Enwezor, der große, vor anderthalb Jahren verstorbene Kurator, hat Moran 2015 zu seiner Venedig-Biennale geholt - unter anderem ließ Moran einen Geisterflügel in einer Ecke spielen, die dem legendären Jazzlokal "Three Deuces" in Manhattan nachempfunden war (wo die Revolution des Bebop in den frühen 1940er-Jahren ihren Anfang nahm). Vor zwei Jahren zeigte Moran beim Jazzfest Berlin ein multimediales Konzert über die Harlem Hellfighters, eine schwarze US-Truppe, die im ersten Weltkrieg in französischen Regimentern kämpfte, weil die weniger Probleme hatten mit Hautfarbe hatten als die Yankee-Soldaten. Was die Hellfighters noch im Gepäck hatten außer Munition: Ragtime, eine frühe Form des Jazz. Der Film dazu stammte von Videokünstler John Akomfrah.
Transatlantisches Bündnis in schwieriger Zeit
Große Orchester in vollen Sälen, eigens für Konzerte produzierte Videos, das Wogen in den Sitzen und der Absacker in einem Club der Stadt: tempi passati. Doch die Zeit hat nicht alles verändert. Das Jazzfest Berlin ist seit jeher eine klingende Atlantikbrücke, die Verbindungen gerade zu afroamerikanischem und zu dezidiert politischem Jazz haben Tradition. Zum dritten Mal hintereinander erhält ein Mitglied der legendären Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM), 1965 in Chicago gegründet, eine besondere Plattform: von Henry Threadgill wird es neue Kompositionen geben, die die Saxofonistin Silke Eberhard mit ihrer Band Potsa Lotsa XL aufführt.
Für die sechs Konzerte aus Brooklyn gibt es auch aktuelle Gründe. "Dass wir gleich das letzte intakte transatlantische Bündnis sind, glaube ich nicht", sagt Nadin Deventer. "Aber natürlich haben wir uns für New York als Schwerpunkt entschieden auch wegen der unmittelbaren Nähe zur US-Wahl, wegen der vielen andern Schauplätze nebst Corona, die sich in New York gezeigt haben." Die Musiker*innen, die alle auf Tournee gewesen wären, können so zumindest dennoch spielen. Dass sie dabei auch unablässig Bilder produzieren, sieht man nun so gut wie noch nie. Und dass die Kunst selbst viel mehr als Bilder herstellt, erweist sich nicht zuletzt im postkolonialen Berliner Kunstraum Savvy, mit dem das Jazzfest eine intensive Kooperation eingeht: als Gattung steht hinter den vielen Programmpunkten da meistens "Sonic Performance".