Künstler Jason Rohr

"Es geht um ein Trunkenfest, um Bacchanalien"

Der Schweizer Künstler Jason Rohr hat sich für eine Ausstellung in der Kunsthalle Winterthur mit viel Alkohol in ein Luxushotel einquartiert, um über Kunst nachzudenken. Wir haben ihn dort besucht 


Jason Rohr, ich fotografiere Sie kurz, wie Sie auf dem Bett liegen, so in Sneakers, Jeans und weißem T-Shirt, unter dem sich Ihr Bizeps abzeichnet.

Ich mag es, wenn Leute von mir Bilder machen. Am Sonntag besuchte mich ein Fotograf. Mir wurde bewusst, wie geil es ist, reproduziert zu werden. Wir haben doch alle Angst vor Insignifikanz!

Ach ja?

In einer Zeit, in der alles reproduzierbar ist, Video, Ton und nun gar die Materialität, die wie ein Echo durch neue Medien schallt, bleibt eigentlich nur die komplexe, sich stets ändernde Identität. Diese Identität, die ein Mensch hat, will ich immer mehr ausleben und zur Schau stellen. Das Singuläre, das noch nicht kopiert werden kann.

Was macht Sie denn aus?

Das ist von außen sicher einfacher zu sagen. Sonst verwechsle ich vielleicht Idiosynkratisches mit Universellem, das uns allen zugleich ist.

Sie verstärken sich gerade mit Alkohol. Was war in der Flasche?

Die Etikette schaut kacke aus. Aber der Islay Blended Whisky hatte es in sich, er schmeckte gut, richtig rauchig.

Der Sprechmotor müsste also laufen, was liegt Ihnen auf der Zunge?

Mega viel –

Andere kleben sich an Bilderrahmen von alten Meistern. Sie steigen als 23-jähriger Künstler im Dolder Grand ab. Wieso?

Egal, wo ich bin, es geht nur um den Inhalt: "I, Artist", wie ja die Ausstellung in der Kunsthalle Winterthur heißt. Obviously, ich wollte keine Verdoppelung. Denn Alkohol und schäbiges Hotel wären ein ästhetischer Overkill des Schäbigen gewesen. Ich fragte mich, okay, wo lösen Aktionismus, äh Alkoholismus und Working Class Spirit keine Verdoppelung aus. So kam ich auf das Dolder Grand. Das Hotel gilt hinsichtlich Gastronomie und Gastfreundlichkeit als Spitze von Zürich. Doch das Bett ist unbequemer als jenes zu Hause, es ist einfach nur plump.

Wie sind Sie vorgefahren? In der Installation "Scenic Drive, Wind in My Hair, Salty Cheeks" sitzt Ihr Kunst-Ich in einem Gefährt mit karamellisierter Autotür ohne Lenkrad.

Hätte ich wählen können, wäre ich in einem Mercedes der G-Klasse vorgefahren. Sonst fahren nur Rapper damit herum, ein visueller Künstler wäre geil darin. Dieses Auto würde ich gerne in Matt-Schwarz haben. So würde ich beim Aussteigen nicht sofort gespiegelt werden.


Wie nehmen Sie die Oberflächen des Fünfsternehotels wahr?

Die Oberfläche ist erst meine, wenn ich mit ihr interagiere. Ich habe mit Ikea-Sack und North-Face-Tasche eingecheckt. Doch die Dolder-Oberfläche ist weniger speziell, als ich gedacht habe. Sie hat vielleicht mehr Fläche als in meiner Wohnung, Spiegelungen, Zwischenräume, Verschnörkelungen, Balkon. Im Bad besteht der Vanity Kit aus Wattepad und Nagelfeile. Das ist stark mit Weiblichkeit konnotiert. Ich habe Feuchtigkeitscreme und Koffein für meine Augenränder erwartet.

Oberflächen sind Ihnen wichtig, etwa die gemalten oder vorgetäuschten Spiegelungen, die an Jeff Koons erinnern.

Leinwand oder glanzpolierter Stahl ist eine Frage des Budgets. Wo ich mich von Jeff Koons unterscheide: Meine Reflexion will nicht die Betrachtenden spiegeln. Meine Reflexion ist eine Illusion der Spiegelung und soll die Betrachtenden exkludieren. Ihnen das Gefühl geben, dass alles Anorganische bestehen bleibt, nur sie nicht. Ein kleines Memento Mori, die keine Ewigkeitsillusion für unser Leben verkauft.


Sie erwähnen dazu Nietzsche ...

Die Arbeit ist mir gekommen, als ich intensiv Nietzsches "Geburt der Tragödie" gelesen habe. Dabei saß ich am Ufer – ich bade gerne im Türler- oder Hallwilersee, manchmal auch in Bergseen – und immer wenn ich vom Ufer ins Wasser schaue, sehe ich entweder die komplette Spiegelung, den Boden des Sees oder ein Spektrum der beiden, doch nie beides zugleich. Ich fand das anwendbar auf die Kunst, vor allem auf den Modernismus hin zum Postmodernismus. Einem Modernisten, manchmal auch den heutigen Menschen, fällt es schwer, Erkenntnisse der Abstraktion in die Figuration zu übersetzen und umgekehrt. Das ist eine der Schwierigkeiten im kulturellen wie menschlichen Leben. Ich weiß nicht, ob es eine menschgemachte Dialektik ist. Aber wir kämpfen damit.

Nietzsche unterscheidet zwischen dem Apollinischen und Dionysischen oder Traum und Rausch.

Ja, im Dionysischen bin ich grad drinnen. Es geht um ein Trunkenfest, um Bacchanalien. Meine Arbeit ist eigentlich ein als Videoarbeit dargestelltes Bacchanal. Der Zustand der Trunkenheit, repräsentiert aus dem Gemalten, übersetzt ins Erlebte, dargestellt vor der Kamera ohne Pinsel. Der betrunkene Körper stellt sich selbst dar. Die Trunkenheit rutscht aus einem apollinischen, rationalen Verständnis durchs Denken, durch den Verstand und die Betrachtung der Kunst in eine emotionale Wahrnehmung von dem, was gerade passiert hindurch. Und die emotionale Wahrnehmung ist schon eine Berechtigung für den visuellen und ästhetischen Ausdruck, das Dionysische. Im Wahrnehmen von dem, was man emotional feiert. Das Apollinische kämpft dagegen, denn es braucht Begründung, Einsicht im Erklärenden. Beide wollen einen Anspruch haben an eine Realität, eine Verbesserung unserer Erfahrung. Aber die Erkenntnisse vom Extrem des einen kann man nicht übersetzen ins Extrem des anderen. Beide sind wichtig.

Sie berauschen sich mit Worten!

Ich beschäftige mich stark damit, nicht nur den Oberflächen der Trends zu verfallen, worin wir uns spiegeln und sehen wollen, mit den entsprechenden Filtern, die dazugehören. Mich interessiert, woher Kunst kommt, wieso man Kunst will, was ihre Fallen sind, kulturell und individuell.

Welche Fallen?

Die pure Berechnung von Kollektiven zum Beispiel, welche die Autorschaft vom Individuellen aufs Kollektive übertragen.

Sie sprechen von der Documenta Fifteen?

Ich will nicht darüber reden. Die Herangehensweise an die Kunst, wenn man Avantgarde oder progressiv sein will, ist völlig verkitscht. Der Anspruch, Autorschaft zu entheben oder aufzulösen, ist verkitscht. Durch die Negation will man eine kunsthistorische Position einnehmen, was in der Retrospektive eine Autorschaft erzeugt. Man sagt dann, die Kunstschaffenden haben die Autorschaft verneint, was wiederum eine Singularität der Arbeitsweise der Person erzeugt. Und ich finde das große Scheiße. Heuchlerisch. Poop Emoji, langweilig, banal.

Was soll denn Kunst bewirken? Sie wollen ja durch die Oberfläche auf den Grund schauen …

Das Wort "bewirken" ist scheiße. Ich finde, Kunst soll nichts bewirken wollen, sondern einzig Reflexionsebene sein. Kunst könnte eine Alternative bieten. Sie unterliegt nicht den ökonomischen, politischen, sozialen Informierungen, sie kann einfach glitschen, Material nehmen, verstellen, mutieren lassen, so dass man es nicht in einem wirtschaftlichen Bedürfnis erkennt. Und das finde ich geil.

Was wären Sie ohne Material?

Ein Poet! Ich glaube, dass ein Künstler ein Poet ist, der sich materiell niederschlagen muss. Poesie bedeutet: Wörter zusammenstellen, die es schon gibt. In der Assemblage der Wörter, die kulturell bereits entstanden sind, entsteht die Poesie. Könnte ich nichts materiell produzieren, würde ich einfach das, was bereits gegeben und produziert worden ist, neu zusammenstellen. Aber so nach Duchamp zu leben, in einer Zeit, mit unseren Möglichkeiten, wäre schade, nihilistisch. Deshalb bin ich froh, in einem Zeitalter zu leben, in dem ich selbst Dinge produzieren kann.

Neben Jeff Koons mögen Sie Pierre Huyghe.

Ich liebe Pierre Huyghe, und gleichzeitig sehe ich die Grenzen seiner Arbeitsweise. Und diese sehe ich immer auch bei mir. Wenn ich mich viel mit KI beschäftige, mit Programmen, welche 3D-Darstellungen erzeugen, mache ich dasselbe, was früher im Kontext der christlichen Kirche gemacht worden ist, als Künstler für diese narrative Gemälde malten. Ich gebe Silicon Valley und ihren Softwares und Algorithmen Macht, in dem ich visuell zeige, wie geil die Möglichkeiten sind. Pierre Huyghe lässt durch Synthese zwischen Machine Learning und Computer Vision die Natur algorithmisch mutieren und integriert das Resultat wieder zurück. Auf einer Ebene bestätigt er dadurch die Algorithmen des Silicon Valley, sagt, wie mächtig diese sind. Das ist vergleichbar mit dem, was Jan van Eyck für die Kirche gemacht hat. Er hat vielleicht ein religiöses Gemälde gemalt und durch seine extreme technische Begabung, welche Huyghe auch hat, teilweise vielleicht outgesourct, bestätigt er die Religion durch das Ausmaß und deren Kraft, durch seine materielle Manifestation. Immer werden Machtstrukturen durch die eigene Arbeitsweise mit Technologien bestätigt.

Wen würden Sie jetzt zu einem erweiterten Bacchanal herbeiwünschen?

Neben Huyghe unbedingt Tracey Emin! Die Britin inspirierte mich für diese Arbeit zur Betrunkenheit wegen ihres Interviews im BBC Live TV, als sie lallte und die Show verließ. Dazu Joan Mitchell, der junge Damien Hirst, Mary Shelley, Jennifer Doudna, Jeff Koons und Renoir mit 60 Jahren. Auch SOPHIE und Lady Gaga, die auf ihrem "Artpop"-Cover eine Reflexion gebärt. Sie ist der erste Popstar, der sich bewusst ist, als Popstar zu performen. Lady Gaga zieht den Bogen auf, spannt ihn und weiß von Anfang genau, wohin er führen wird. Ein Popstar ist immer larger than life, eine Projektionsfläche.

Worüber würden Sie sich mit den Gästen unterhalten wollen?

Zunächst würde ich mich bedanken für den Mut und die Hoffnung, die sie mir gegeben haben, für die kulturelle Perspektiven, um weitermachen zu können.

Es ist 21 Uhr 30. Die Fensterscheiben wirken gerade wie eine vertikale Seeoberfläche, die Sie spiegelt. Wie viel trainieren Sie für diesen Bizeps?

Etwa drei Mal pro Woche. Ich finde den Schmerz voll geil und will gut aussehen. Die meisten arbeiten mit Mode. Ich will mich dieser entziehen, so gut es geht, und meine Jugend durch die Silhouette zeigen. Aber ich versuche mich intellektuell so zu betätigen, dass ich irgendwann den körperlichen Zerfall genießen und auf ein Werk zurückschauen kann, das sich ausgeschöpft hat.

Deshalb sind Sie so präsent in den Werken? Sogar im pinken Bunny aus Seife, "The Earnest of Being Important", Ihrer Diplomarbeit an der Zürcher Hochschule der Künste, glaubt man Sie zu erkennen.

Ich glaube, wenn Materialität anfängt, durch verschiedene Medien zu hallen, sehnen sich die Leute nach Geschichten, die ihnen jemand zu oder über sich erzählt. Und wenn ich keine Persönlichkeit habe, mich nicht in meine Kunst einfließen lasse, dann ist alles kopierbar mit den neuen Technologien. Ich kann mich nur davor bewahren, in dem ich ein extremes Ego, eine extreme Ich-Haftigkeit einspritze.

Wohin kann das führen?

Watch me!


Wie nehmen Sie die Zeit außerhalb Ihres Universums wahr?

Mega krass, das eine schließt das andere nicht aus. Wenn ich nur mein Universum hätte, wäre ich schizophren oder psychotisch. Und wenn ich nur informiert wäre, wäre ich so ein Trendanhänger oder Fanboy. Wenn man beides kann, sind die Möglichkeiten im Jetzt verankert. So entfernt man sich nicht zu stark von umgebenden Menschen, was eigentlich schön ist.

Bitte?

Wenn ich nur Kultur machen würde, wie sie sein könnte, würde ich viele Leute entfremden, weil sie so drauf getrimmt sind, was Popkultur gerade ist. Ich mache Kunst nicht nur für eine kanonisch gebildete Elite. Sie soll mehrere Ebenen haben, über das Visuelle, Konzeptionelle oder Metaphysische zugänglich sein. Sie soll auch nichts Zynisches haben. Dazu ist das Leben zu kurz.

Einige junge Menschen sind etwas hoffnungslos.

Die junge Generation lernt, dass sie wenig Einfluss auf Unausweichliches wie den Klimawandel hat und gleichzeitig viral werden kann. Sie kann ein kulturelles Symbol werden, ohne Einfluss zu haben. Das glaube ich, ist unserer Zeit recht eigen.

Welchen Einfluss hätten Sie gerne?

Alle Artists, die sagen, sie wollen keinen Einfluss haben, keine Autorschaft, machen sich etwas vor. In ihrer Moralpredigt suchen sie eine Ästhetik. Ich will kulturellen Einfluss haben, ich bin menschenliebend und glaube an uns Menschen. Das Wertvollste im Universum ist, dass es jemand wahrnimmt und reflektiert.

Das steht etwas im Widerspruch zum Exkludieren, aber schön gesagt zur späten Stunde! 

Und der Reichtum der Menschen, die sich eine 20.000-Dollar-Suite für eine Nacht leisten können, ist vielleicht, dass sie die Mechanismen der Bedürfnisse der anderen verstehen und diese kapitalisieren können durch einen Algorithmus, Social Media oder ein Unternehmen. Aber der eigentliche Reichtum des Lebens ist es zu verstehen, dass einem alles gehört, nicht materiell, aber in der Wahrnehmung, egal von welchem Ort aus. Das ist der poetische Reichtum.