Ihr neues Programm ist James Reese Europe und den Harlem Hellfighters gewidmet. Wer waren diese "Höllenkämpfer"?
In einem Satz: James Reese Europe war der Mann, der mittels des Ersten Weltkrieges den Jazz nach Europa gebracht hat. Kurz nach Kriegseintritt der USA im Frühjahr 1917 formierte sich eine Freiwilligengruppe afroamerikanischer Soldaten zum Regiment 369, viele von ihnen stammten aus Harlem. Der Krieg war für diese Männer eine komplexe Angelegenheit: Sie gehörten der ersten Generation Afroamerikaner nach Abschaffung der Sklaverei an, sie wollten für ihr Land kämpfen. Aber die US-Army war strikt segregiert, weshalb die Soldaten auf Seiten der Franzosen kämpfen mussten. Wegen ihrer Tapferkeit und ihrer tödlichen Präzision erlangten sie unter dem Spitznamen "Harlem Hellfighters" Bekanntheit. James Reese Europe, ein aus Alabama stammender Bandleader und Komponist des Ragtime und frühen Jazz, diente als Lieutenant der Höllenkämpfer und leitete deren Militärband, The Hellfighters Band. Er forderte von seinen Musikern absolute Exzellenz. Als die Band dann am Neujahrtag 1918 in Brest landete und ihr erstes Konzert gab, flippten die Leute aus. Die Hellfighters spielten die Marseillaise – aber auf eine so moderne, schnelle Art, wie die Franzosen sie noch nie gehört hatten. Es wurde sogar behauptet, Reese und seine Männern spielten Fake-Instrumente, da die Menschen einfach nicht glauben konnten, was sie da hörten.
Die Musik traf den Nerv der Zeit?
Es ist der Beginn der Moderne – im Krieg und in der Musik. Reese und seine Männer kämpften an der Front und spielten dann diese Konzerte. Musiker haben generell eine höhere Sensibilität für Klänge. Und wenn du die Klänge des Krieges hörst – Bomben, die vom Himmel fallen, Maschinengewehrsalven, Explosionen – ist dein Gehör völlig anders. Auf dieser Erfahrung beruht die buchstäbliche Explosivität dieser Band. Aber dahinter steckt auch, was man heute als Posttraumatische Störung bezeichnen würde und was Reeses Männer gleich doppelt trifft: das psychologisches Trauma, Schwarzer in den USA zu sein und die Schrecken des Krieges zu erleben. Musik hat eine heilende Kraft. Wenn du verwundet im Krankenhaus liegst und eine Band taucht auf, erinnert sie dich durch den Klang an deine Heimat. Die Botschaft der Musik ist: Wir bringen dich zurück.
Gibt es Parallele zwischen den Klängen des Krieges und Jazz oder spendete die Musik einfach Trost?
Reeses Ragtime ist schnell, der Rhythmus synkopiert. Zehn, 15 Jahre nach Kriegsende sehen wir, wie Kriegsbegriffe zu Jazzbegriffen werden: Beim Schlagzeug gibt es zum Beispiel die "Dropping Bombs" – ein lauter Basstrommel-Sound. Max Roach und frühe Drummer "were dropping bombs". Überhaupt ist es ja der Rhythmus, der die Entwicklung der Musik anzeigt. In der amerikanischen Musik ist das leicht nachzuvollziehen: Von den Big Bands und Swing zu Bebop, zu Soul und Funk und bis zu Trap Musik heute – der Rhythmus ist der Teil, der nach vorne strebt. James Europe wird die Entwicklung des synkopierten Rhythmus zugeschrieben. Die Synkope ist ein Upbeat, der den Downbeat antizipiert. Mir schien das immer eine wunderbare Metapher für das amerikanische Fortschrittstreben: dafür, dass ein neues Kapitel aufgeschlagen wird, für das ich dich jetzt schon vorbereite. Fünf bis sechs Jahre nach Reeses Einsatz in Europa beginnt die Harlem Renaissance, weil die Musik das Signal sendet: Es ist an der Zeit, voranzuschreiten.
Verstand sich Reese auch als politischen Aktivisten?
James Reese Europe begann in kleinen Kellerbars und trat schließlich in der Carnegie Hall mit 120 Musikern auf. Sein Nachdenken über das Organisieren von Musik und Musikern führte auch dazu, dass er 1910 den Clef Club gründete, eine gewerkschaftsähnliche Organisation für afroamerikanische Musiker, teils Orchester, teils Agentur. Reese hat sehr fortschrittlich gedacht, er gehört zur selben Generation wie W.E.B. Dubois, James Weldon Johnson oder Marcus Garvey: Man ist gerade gerade aus der Sklaverei gekommen, das große Thema ist Empowerment. Wir können uns die Ambitionen dieser Generation heute kaum noch vorstellen. Hundert Jahre nach Reeses Landung in Europa stellt sich für mich die Frage: Wo stehen wir heute? Was haben wir erreicht? Reese zwingt mich als Musiker zu einer Neubewertung: Wie formt der Krieg die heutige Welt? Was sind die inneren und die äußeren Kämpfe des Einzelnen, der Communitys und der Länder in unserer Gegenwart? Welches aktivistische Potential hat der Jazz?
Der Untertitel ihres Projektes lautet "The Absence of Ruin" – zu deutsch "fehlende Ruinen". Was ist damit gemeint?
Während der Vorbereitung des Projektes lebte ich in Rom und unterhielt mich dort mit dem Filmkünstler John Akromfrah. Während unseres Gesprächs erinnerte er mich daran, dass Musik eine Kunstform ist, die kaum materielle Spuren hinterlässt. Wenn du durch Rom läufst, bist du permanent den Spuren der Vergangenheit ausgesetzt. Architektur, Urbanität oder Kunst – all diese historisch-komplexen Phänomene sind zu sehen und drängen in dein Bewusstsein. Jazz hingegen scheint immer im Hintergrund zu laufen. Er tüncht die Stimmung eines Restaurants, läuft als Fahrstuhl- oder Filmmusik. Und genau so ist auch James Reese Europe ausgelöscht aus der Geschichte, sein Name heute kaum bekannt, obwohl er ein so wichtiger Vordenker war. Dagegen möchte ich angehen in meinem Projekt. Meine Band und ich sind sozusagen die Ruinen, die er hinterlassen hat. Es gibt eine Verbindung. Das wollen wir den Menschen zeigen.
Wie wird das Projekt aussehen?
Es wird eine Art Meditation über James Reese und sein Wirken, die musikalische Performances sowie historisches und aktuelles Foto- und Filmmaterial umfasst. Der Kameramann Bradford Young, der auch Filme wie "Arrival" oder "Selma" gemacht hat, hat mich und meine Band bei Klangmeditationen gefilmt. Wir waren aber auch in dem Viertel Weeksville in Brooklyn unterwegs, einer frühen afroamerikanischen Siedlung, haben im Theater der Champs-Élysées in Paris fotografiert, wo Reese aufgetreten ist, und waren an seinem Grab. John Akromfrah hat bei der Organisation und Zusammenstellung geholfen, er ist ein Meister in der Präsentation von Bildern.
Als der Videokünstler Arthur Jafa kürzlich auf seinen Hang zu Kollaborationen angesprochen wurde, erzählte er, dass er ursprünglich Architekt werden und Häuser wie einen Miles-Davis-Song bauen wollte. Was reizt Sie an der Zusammenarbeit mit Künstlern wie Jafa, Joan Jonas, Kara Walker oder Julie Mehretu?
Meine erste Leidenschaft war eigentlich Herpetologie, das Studium von Reptilien. Die Fähigkeiten der Schlange und des Alligators haben mich immer fasziniert, denn sie können beide sowohl an Land als auch im Wasser leben. Dieses Crossover, dieses Überbrücken unterschiedlicher Welten – so fühlt es sich an, mich zwischen Musik und zeitgenössischer Kunst zu bewegen. Ob Adrian Piper, Joan Jonas, Kara Walker, Adam Pendleton, Julie Mehretu, Stan Douglas oder Glen Ligon – viele Künstler waren für mich diese Brücken. Manchmal haben sie mich tief ins Wasser gezogen mit ihrem Material, und manchmal haben sie mich hoch in den Himmel gebracht. Sie haben mir eine konzeptuelle Herangehensweise beigegebracht, auf die ich nicht eben vorbereitet war als Musikstudent am Konservatorium. Künstler arbeiten oft historisch, sie haben eine ganze spezielle Weise, Geschichte freizulegen. Die erste große Performance, die ich zusammen mit Joan Jonas gemacht habe, drehte sich um Aby Warburg und seine Bibliothek und seinen Wahnsinn. Und ein bisschen so wie Joan es mit Aby Warburg machte, nähere ich mich jetzt auch James Reese Europe: sich ein Stück Geschichte nehmen, hineintauchen als sei es ein Traum, aber im Wissen darum, dass seine Auswirkungen real sind.