Künstler Tavares Strachan

"Die Fähigkeit zum kritischen Denken ist in Gefahr"

Ein afroamerikanischer Polarforscher, der erste Schwarze Astronaut: Tavares Strachan sucht nach übersehenen Kapiteln der Geschichte. Hier spricht der Künstler übers Hinsehen als politische Kraft und die USA unter Donald Trump

Tavares Strachan untersucht die Konstruktion von Machtsystemen und kritisiert gängige historische Narrative, die Teile des Ganzen ausschließen. Ein zentrales Werk ist die "Encyclopedia of Invisibility" (2014–2018), ein fortlaufendes Buchprojekt, das aktuell über 17.000 Einträge umfasst: historisch marginalisierte Personen – zum Beispiel indigene, nicht-westliche, weibliche und queere Menschen –, sowie Orte und Ereignisse. Die Arbeit ist ein zentrales Element der aktuellen Ausstellung "Supernovas" in der Kunsthalle Mannheim und wird zusammen mit der Installation "Six Thousand Years" (2018) präsentiert, in der er der Frage nachgeht, wie und von wem Wissen strukturiert wird. Wir haben Strachan in Mannheim getroffen.


Tavares Strachan, Ihre "Encyclopedia of Invisibility" wird in einer Vitrine präsentiert, man kann das Buch nicht durchblättern. Einige Einträge haben Sie jedoch auf einer Unterseite von Wikipedia zugänglich gemacht. Beim Anschauen der Einträge habe ich mich gefragt, wie Sie Unsichtbarkeit definieren?

Unsichtbarkeit bezieht sich auf das institutionelle Wissen, auf das, was an Universitäten und Schulen gelehrt wird, um die Dinge, die im öffentlichen Raum sichtbar sind. Viele der Themen, die ich behandele, sind in den Lehrplänen der Hochschulen und Schulen nicht vorhanden und finden sich nicht im öffentlichen Raum.

Im Kontext Ihrer Arbeit bedeutet Unsichtbarkeit also nicht nur, dass über etwas oder jemanden nie gesprochen oder geschrieben wurde. Es bedeutet auch, dass über eine Person, über ein Ereignis nicht in angemessenem Umfang gesprochen wurde. Die jeweilige Bedeutung wurde von Gesellschaft und Geschichte nicht ausreichend erkannt.

Absolut. Ralph Ellison, der den wundervollen Roman "Der unsichtbare Mann" geschrieben hat, definiert Unsichtbarkeit als Weigerung zu sehen. Es ist nicht so, dass es nicht da wäre, man schaut nur nicht hin.

In einem TED-Talk, den Sie 2023 gegeben haben, bezeichneten Sie die Geschichten marginalisierter Menschen als "verlorene Geschichten", die "einen Schlüssel zu unserem Zugehörigkeitsgefühl enthalten können". Mit Ihrer künstlerischen Arbeit wollen Sie den ausgrenzenden Status Quo überwinden und eine Erzählung entwickeln, die die Vielfalt der Stimmen und Geschichten einschließt. Doch wie erreicht das Wissen, das Sie in Ihrer Arbeit vermitteln, diejenigen, die normalerweise keine Museen oder Galerien besuchen?

Über diese Frage denke ich sehr viel nach. Ich komme aus einer Familie, die mit Kunst, die die europäische Perspektive fokussiert, nicht viel zu tun hat. Wenn sie das Wort Kunst hören, laufen sie eher davon. Wenn man nicht einer bestimmten Schicht angehört oder nicht von einer bestimmten Gruppe umgeben ist, kann Kunst sehr einschüchternd wirken. Da kann es eine große Hemmschwelle geben, sich damit zu beschäftigen. Es ist mir sehr wichtig, dass Menschen unterschiedlichster Herkunft Zugang zu meiner Arbeit bekommen und sich mit den Ideen auseinandersetzen können, die ich vermitteln möchte. Denn letztendlich geht es mir darum, eine menschliche Geschichte zu erzählen. Kunst ist und war schon immer ein Spiegel menschlicher Erfahrung. Alle, und nicht nur eine bestimmte Gruppe von Menschen, sollte einbezogen werden und teilhaben können.

Ich schätze, hier kommt Ihr gemeinnütziges Gemeinschaftsprojekt OKU in Nassau ins Spiel? OKU umfasst eine Künstlerresidenz, Ausstellungsräume, ein Stipendienprogramm sowie Kreativ-Programme, an denen Schülerinnen und Schüler nach dem Unterricht teilnehmen können …

Ja, ich bin insbesondere am Verlernen interessiert. Denn es ist doch so: Wenn einem über Generationen hinweg bestimmte Dinge beigebracht werden, beginnt man schließlich, daran zu glauben. Man nimmt an, dass es die Realität ist. Aber was passiert, wenn man es schafft, das Gehirn neu zu verdrahten, wenn man also das in der Schule Gelernte verlernt? Es ist spannend zu sehen, was möglich ist, wenn neue kulturelle Praktiken entwickelt werden, die ein Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln, die einbeziehend statt ausschließend sind und die Wissen zugänglich machen, das bisher verwehrt blieb.

Wann haben Sie gemerkt, dass die Geschichten, die man Ihnen erzählte, nicht die ganze Wahrheit sind?

Ich war schon immer ein sehr skeptisches Kind. Ich habe viele meiner Informationen aus Liedern und Musik bekommen, vor allem Reggae war wichtig für mich. Und ich habe mich dann gefragt: Warum habe ich das nicht in der Schule gehört? Was ist hier los? Als ich anfing, mich immer mehr damit auseinanderzusetzen, wurde mir klar, dass es nicht nur um Informationen geht, sondern um das aktuelle politische, wirtschaftliche und soziale Klima. All diese Dinge zusammen beeinflussen, welche Geschichten eine Gesellschaft der nächsten Generation erzählt.

Während Ihre Arbeit Licht auf unerzählte Geschichten wirft, trägt die aktuelle Trump-Regierung in den USA viel dazu bei, Dunkelheit zu verbreiten. Sie will die Erzählung in Museen ändern: Aspekte der amerikanischen Geschichte, die ganz und gar nicht ruhmreich sind – wie die Sklaverei und der anhaltende Rassismus – sollen ignoriert werden. Was sagen Sie zu der aktuellen Situation?

Interessanter finde ich die Geschichten all jener Künstlerinnen und Künstler, die in den letzten Jahrhunderten Angriffe aus vielen verschiedenen Richtungen ertragen mussten – von Regierungen, privaten Unternehmen bis hin zu Hochschulen. Ich denke, viele Künstlerinnen und Künstler sind es gewohnt, ihre Position verteidigen zu müssen. In der aktuellen politischen Situation ist mein Ansatz, ihnen eine Plattform zu bieten, um das zu tun. 

Aber die Bemühungen, Geschichte im Einklang mit politischen Zielen umzudeuten, werden sich auch darauf auswirken, was die Menschen in Museen lernen. Das gilt insbesondere für die eintrittsfreien Museen des Smithsonian Institutes. Steven Levine, der fast 30 Jahre lang das California Institute of the Arts leitete, sagte schon 2023: "Die Situation der künstlerischen und intellektuellen Freiheit ist so schlecht wie seit den 1950er-Jahren, seit der McCarthy-Ära, nicht mehr." Derzeit spitzt sich die Lage noch mal zu. Ist das nicht beängstigend für Sie?

Wenn man bedenkt, wie Künstlerinnen und Künstler im Laufe der Geschichte immer wieder ihre Position als frei Denkende verteidigen mussten, ist die aktuelle Lage etwas, womit viele von uns relativ vertraut sind. Auch wenn die Öffentlichkeit die derzeitige Situation vielleicht als eher ungewöhnlich empfindet, bin ich mir sicher, dass viele von uns damit ständig konfrontiert sind. Natürlich ist das alles sehr alarmierend. Aber ein großer Teil dieses Schreckens, des ständigen Alarms, wird meiner Meinung nach auch dadurch erzeugt, dass beispielsweise wir gerade drüber sprechen. Wir geben diesem Narrativ noch mehr Input, schenken ihm noch mehr Aufmerksamkeit. Ich denke, man muss sich auf das konzentrieren, was man tut, und einfach sein Ding durchziehen.

Ihre Schau in Mannheim trägt den Titel "Supernovas". Eine Supernova ist ein widersprüchliches Ereignis: Ein Stern explodiert, stirbt, und in diesem Moment erhöht sich seine Leuchtkraft um das Millionen- und Milliardenfache. Im Augenblick seines Todes wird der Stern so hell und kraftvoll wie nie zuvor. Und dann verschwindet er. Was war Ihre Absicht mit der Wahl dieses Titels?

Der Begriff beschreibt die unendlichen Möglichkeiten eines Traums, einer Möglichkeit, die mit einem Gedankenexperiment beginnt. Nehmen wir das Beispiel von Matthew Henson, dem Entdecker des Nordpols. Seine Geschichte wurde nicht erzählt, wurde zum Verstummen gebracht. Aber man kann sich auch eine Zukunft vorstellen, in der sie eine sehr wichtige, zentrale Geschichte für die menschliche Zivilisation ist. Diese Art des Umdenkens ist wie eine Supernova: Seine Story, sein Vermächtnis, ist fast im Sterben, aber dann erkennt man: Das ist ziemlich groß. Und es stellt sich heraus, dass es tatsächlich eine sehr wichtige, kraftvolle Geschichte ist. Ich liebe diese Idee. Ich finde, es hat etwas Magisches, dass jemand, der ignoriert wurde, der Ausgangspunkt für etwas Neues, Großes wird. Es ist, wie Bob Marley sang: "The stone that the builder refuse, will always be the head cornerstone."

Matthew Henson (1866–1955) taucht in einigen Ihrer Arbeiten auf, beispielsweise in der 14-Kanal-Video-Arbeit "Magnetic" (2013) und in der Multimedia-Installation "Polar Eclipse" (2013), die Sie auf der 55. Biennale von Venedig präsentierten. Beide Arbeiten entstanden im Rahmen mehrerer Reisen zum Nordpol, die Sie zu Ehren des afroamerikanischen Polarforschers Henson unternahmen. Mit dem US-amerikanischen Entdecker Robert Peary unternahm er sieben Expeditionen, die beiden verbrachten insgesamt 18 Jahre miteinander auf Reisen. Während ihrer Expedition von 1908 bis 1909 erreichten sie am 6. April 1909 nach Aussage von Peary den geografischen Nordpol, was aber umstritten ist. Hensons Beitrag zu diesen Errungenschaften wurden jedoch regelrecht gelöscht. Warum war es Ihnen wichtig, auf seinen Spuren an den Nordpol zu reisen?

Ich liebe das Zusammenspiel der Sinne, und ich finde es sehr interessant, wenn ein bestimmtes Material zum Objekt wird. Nehmen wir zum Beispiel Beuys: das Fell, das Fett, der Filz … Diese Materialien lösen eine instinktive, unmittelbare Reaktion aus, weil man das Kunstwerk nicht nur betrachten kann, man kann es auch riechen, kann sich vorstellen, wie es sich anfühlt. Für mich war es wichtig, zum Nordpol zu reisen, weil es mich reizt, wenn die Vorstellung von etwas mit der tatsächlichen, unmittelbaren Erfahrung kollidiert. In diesem Fall kollidiert die Vorstellung, zum Nordpol zu reisen, vom Eis umgeben zu sein, mit der realen Erfahrung, dort zu sein. Und genau das mache ich auch in meiner künstlerischen Praxis: Ich möchte eine Kollision erzeugen zwischen dem intellektuellen Aspekt der Erfahrung eines Kunstwerks und der unmittelbaren Erfahrung, wie beispielsweise dem Riechen eines Materials.

Kann man das auch in Mannheim erleben, wenn man es nicht zum Nordpol schafft?

In der Ausstellung passiert das in den Installationen "There Is Light Somewhere. Jah Rastafari with Rice Field (Stacked with Pineapple, Shield and Football)" von 2023 und "There Is Light Somewhere. Intergalactic Palace" von 2024. Man riecht das Gras, das Holz und das Stroh, man spürt den steinigen Boden unter den Füßen und hört den Sound.

Ein weiteres Werk, über das ich sprechen möchte, ist "Enoch". In der Ausstellung sehen wir das Ausstellungsstück dieses komplexen Werks: einen kleinen ägyptischen Kanopenkrug, der aus Bronze und 24-karätigem Gold gefertigt wurde. Ein weiteres identisches Exemplar wurde 2018 mit einer SpaceX-Falcon-9-Rakete ins All befördert. "Enoch" ist eine Reminiszenz an Robert Henry Lawrence junior. Er war der erste afroamerikanische Astronaut, der für ein nationales Raumfahrtprogramm ausgewählt wurde. Er konnte seinen ersten Flug allerdings nicht absolvieren, da er 1967 bei einem Trainingsflug ums Leben kam. In der Folge wurde er von der Geschichtsschreibung der bemannten Raumfahrt ignoriert. Daher schicken Sie ihn auf seine erste und letzte Mission …

Ja, mich interessieren die großen Gesten, die sich um die unerzählten Geschichten kreieren lassen.

Warum?

Derzeit wird kritisches Denken mehr als alles andere angegriffen. Die Fähigkeit zum kritischen Denken ist in Gefahr, und damit meine ich: eine gesunde Skepsis, gepaart mit der Fähigkeit, Informationen anhand verschiedener Kriterien wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verarbeiten. Für mich verkörpert der Akt des Hinsehens diesen Begriff des kritischen Denkens.

Große Gesten führen also dazu, Dinge zu betrachten, die vorher ignoriert wurden?

Richtig.

Ich bin wirklich fasziniert von Ihrer Serie "A Map of the Crown" von 2023, in der Sie klassisch gestaltete Bronzebüsten mit afrikanischen und afrodiasporischen Frisuren kombinieren. Diese werden mit monochromen schwarzen Leinwänden präsentiert. Genau wie die Frisuren der Büsten bestehen auch die Oberflächen der Leinwände aus echtem Haar, das Sie von Friseuren in Nassau und Kingston/Jamaika gesammelt haben. Dieser Raum ist unglaublich. Erzählen Sie mir bitte mehr über die Serie.

Was hat Sie an diesem Raum beeindruckt?

Die Büsten haben eine besondere Ausstrahlung; die Atmosphäre in diesem kleinen Raum ist sehr dicht. Und dann ist da noch das Material, das Haar … Spuren menschlicher Existenz.

Ja, es ist ein wilder, unheimlicher Raum. Hier kommt vieles zusammen: Referenzen an Malewitsch, Yves Klein, Rothko, aber auch die DNA, die Seelen und die Geschichten all dieser Menschen sowie die unendliche Natur der Farbe Schwarz. Die Werke sind auch eine Hommage an die unsichtbare Poesie und Schönheit eines schlichten Materials. Wir alle produzieren dieses Material täglich, aber wenn man es in einen neuen Kontext bringt, kann man es mit anderen Augen betrachten.

Die Ausstellung ist wie ein Universum aus Referenzen, in dem Biografien, Ereignisse, kulturelles und historisches Wissen, verschiedene Orte und Zeiten zusammenkommen. Manche der Werke sind ohne viel Wissen oder Recherche schwer zu entschlüsseln.

Ja, aber ich finde, die Objekte sind dennoch fesselnd. Man muss nicht alles wissen; es ist wie Musik! Vielleicht versteht man die Lyrics nicht, aber man mag die Stimmung, die das Lied transportiert, man spürt den Beat und kann trotzdem dazu tanzen. Ich denke, das ist das Wichtigste.

Die Ausstellung bietet ein sehr umfangreiches Programm, das auch verschiedene Akteurinnen der Stadt einbezieht: Experten, Musikerinnen und so weiter. Was halten Sie von dem Programm?

Es ist fantastisch und wirklich etwas Besonderes. Ich bin sehr gerne in Mannheim. Die Stadt erinnert mich von der Größe her an Nassau. Sie ist nicht zu groß, aber es ist viel los. Was ich hier besonders liebe, ist die Leidenschaft der Menschen für die Kunst. Das Programm erinnert mich an die Möglichkeiten der Interaktion zwischen einer Ausstellung und den Menschen einer Stadt. So stelle ich mir die Zukunft meiner Gemeinde in Nassau vor.