In einem Studio zu sitzen und dort Porträtfotos zu schießen, kam für Sitara Thalia Amborio nie in Frage. Im Alter von 15 Jahren bricht sie die Schule ab, zieht zuhause aus, geht reisen und merkt, was Fotografie mit den Menschen machen kann. Sie geht auf Demos, sie schaut, was Menschen bewegt. Heute, vier Jahre später, lebt sie als Fotojournalistin in Leipzig und begleitete zuletzt die Besetzungen im Dannenröder Wald in Hessen, der für den Weiterbau der Autobahn 49 inzwischen zum großen Teil gerodet wurde, sowie geflüchtete Männer in Bihać, Bosnien-Herzegowina, mit der Kamera. "Es war immer wichtig, dass etwas Soziales dabei ist", sagt sie über ihre ersten fotojournalistischen Arbeiten.
Sitara Thalia Ambrosio, wie entstehen die Ideen zu Ihren Fotos?
Oft sitze ich am Frühstückstisch, scrolle durch Twitter, schaue, was gerade aktuelles Weltgeschehen ist. Migration ist ein Themenschwerpunkt, an dem ich länger arbeiten will. Dann eskalierte die Lage in Bosnien, zwei Wochen später war ich dort. So entstehen meine Arbeiten meistens: Ich schaue mir etwas an, es inspiriert mich, da sollte ich hinfahren. Den "Danni", also die Proteste im Dannenröder Wald in Mittelhessen, habe ich dagegen als Auftragsarbeit ein gutes Jahr lang begleitet. Zwei Wochen habe ich selbst im Wald gewohnt, habe auf einem der Baumhäuser geschlafen und geschaut: Wie komme ich nah an die Menschen heran?
Aus medialen Berichterstattungen von Waldbesetzungen kennen wir meist Bilder von Transparenten, von Baggern, von abgeholzten Bäumen. Die Menschen dahinter fallen unter den generalisierenden Begriff der Protestierenden. Wieso zeigen Sie stattdessen die Individuen?
Ich liebe Gesichter, und ich mag es, sie einzufangen. In den "Danni" bin ich nicht mit der Intention gefahren, eine Porträtreihe zu machen, sondern ich habe die Menschen dort erst einmal kennengelernt. Ich habe auch viele situative Bilder, aber am Ende ist spannend: Wer stellt sich dahin, wer setzt sich auf ein Baumhaus und sagt "keinen Schritt weiter"? Die Besetzungen hätten gar nicht funktioniert ohne das Menschliche, ohne die Dynamik, die die Menschen dort hatten, wie sie sozial miteinander interagiert haben. Ich wollte das zeigen, und die Menschen, die hinter der Besetzung standen.
Wie sind Sie an die Protestierenden herangekommen?
Ich wurde von den Menschen im Dannenröder Wald als Teil des Ganzen wahrgenommen. Manchmal mehr, als es mir lieb war. Ich möchte möglichst eine Distanz wahren, damit ich berichten kann und es mich emotional nicht mehr abholt, als es sollte. Bei Kleinigkeiten wurde ich involviert - wenn gekocht wurde, oder wenn Menschen auf mich zukamen und sagten: "Wir machen heute das und das, hast du nicht Lust mitzukommen? Du darfst auch fotografieren." Das war sehr hilfreich. Viele Momente hätte ich nicht so einfangen können, wie sie jetzt sind, wenn die Menschen mich dort nicht involviert hätten.
Sie versuchen, Nähe trotz Distanz zu schaffen. Wie das gelingt, können wir besonders in Ihren Porträts sehen, die auf den ersten Blick kaum wie eine Art der Berichterstattung wirken. In Ihrer Porträtreihe "The People behind the border" über Menschen, die an der EU-Außengrenze in Bosnien ausharren, sehen wir junge Männer vor einem ruhigen Hintergrund, wir schauen ihnen unmittelbar in die Augen. Es scheint, als nehmen sie Blickkontakt zu uns auf. Wie beginnen Sie solche Arbeiten, und wie war das in Bosnien überhaupt möglich?
In Bosnien bin ich ein paar Kilometer von Lipa entfernt in Bihać angekommen. Lipa liegt abgeschirmt auf einem Hügel. Bihać ist acht Kilometer entfernt von der Grenze zu Kroatien und somit auch Sammelpunkt, da die Menschen dort vor allem hinkommen, um den Grenzübertritt zu versuchen. Es sind meist verlassene Häuser, in denen die Menschen wohnen. Ich dachte zuerst, die Geflüchteten würden abseits am Rand der vielen Häuser leben, die durch den Bosnienkrieg leer stehen. Einer der Kernorte, an dem auch ich viel gearbeitet habe, sollte mal ein Altersheim werden. Jetzt ist es eine riesige Bauruine. Sie liegt aber mitten in der Stadt. Da gehen Leute mit ihrem Hund vorbei, es wohnen Menschen in Häusern gegenüber. Rechts steht das verlassene Gebäude und links davon ein riesiges Restaurant direkt am Fluss. Da essen Menschen ihre Schnitzel und Pommes, sitzen da und trinken ihren Wein. Das ist absurd.
Wie würden Sie die Situation der Geflüchteten beschreiben?
In Bosnien ist es verboten, den Menschen, die in diesen Gebäuden leben, zu helfen: Man darf Geflüchtete nicht im Auto mitnehmen, die Hilfsarbeit wird streng sanktioniert. Menschen, die helfen wollen, werden kriminalisiert, und somit kommt auch Hilfe, die möglich wäre, nicht an oder wird unterbunden. Auf der anderen Seite gibt es die sogenannten Push-Backs, also das Zurückdrängen von Menschen von den Grenzen ihres Ziel- oder Transitlandes. Viele Verletzungen, die ich gesehen habe, wären für uns bloß ein Kratzer. Da mache ich ein Pflaster drauf, Wund- und Heilsalbe und dann ist das in ein paar Tagen vorbei. Dort ist das aber mit starken Infektionen verbunden und kann bis zur Blutvergiftung führen.
Sie bilden auf den Porträts allerdings keine Verletzungen ab, sondern junge Männer, einige von ihnen lächeln in die Kamera. Das sieht grundlegend anders aus als andere Nachrichtenbilder von Geflüchteten, die überwiegend Leid und die menschenunwürdigen Lebensbedingungen in den Camps abbilden. Wie gehen Sie auf die Menschen zu?
Die Fotos sind natürlich nicht am ersten Tag entstanden. Ich gehe da nicht rein und sage: "Stellt euch in einer Reihe auf, ich porträtiere euch jetzt alle". Insgesamt war ich drei Wochen dort, und es ging vor allem darum, Menschen kennenzulernen. Ich habe mich vor das Gebäude gestellt und gewartet, dass Menschen vorbeikommen. Wenn ich mich als Sitara, Fotografin aus Deutschland, vorgestellt habe, wurde ich gleich mit ins Gebäude genommen. Ich habe mich zu ihnen gesetzt und einen Tee bekommen. Wenn du viel zusammensitzt, mit den Menschen sprichst und unterwegs bist, bauen sie irgendwann Vertrauen zu dir auf. Wenn sie aber nicht wollen, dass ich Arbeiten mit ihnen veröffentliche, dann respektiere ich das.
Die Porträtreihe ist Teil von einem größeren Projekt, einer Multimediareportage ...
Ja. Es soll darin um Fragen gehen: Wie leben die Menschen dort, wie erleben sie Push-Backs, was passiert da unten? Sonst sieht man immer diesen Dreck. Viele Menschen reden über diese Leute - "die haben kein Strom, die haben kein fließendes Wasser, die Leben da zwischen alten Kanistern und irgendwie Essensresten und haben kein Klo", sowas. Aber man vergisst dabei leicht, dass es Menschen sind. Die Porträts habe ich herausgestellt, weil sie genau das vermitteln, dieses Gefühl der Menschlichkeit. Wenn meine Arbeit sich auf etwas fokussieren soll, dann darauf, dass Geflüchtete mehr sind als eine politische Diskussion. Dass es mehr ist, als zu sagen Grenzen auf, Grenzen zu, Push-Back und Gewalt. Klar, das gehört alles dazu, aber wir müssen auch sehen, dass es um Menschen mit einer individuellen Geschichte geht.
Der schlichte dunkle Hintergrund, der nur wenig Raum einnimmt, wirkt fast ortlos ...
Ich bin nicht der Mensch für Schockfotos, wie wir sie aus den Medien kennen. Auf der einen Seite ist es wichtig, dass Menschen sehen: Das ist der Lebenszustand, so waschen sie sich, das sind die Verletzungen, es gibt keine medizinische Versorgung. Die Lebensumstände zu zeigen, wird auch Teil des Multimediaprojekts sein. Auf der anderen Seite muss es auch einfach Bilder geben, die tiefer gehen oder die mehr Einblick gewähren. Ich würde nicht sagen, dass so eine Porträtreihe in den Mainstream-Medien fehlt, aber es wäre schön, wenn es dazu mehr Berichterstattung gibt, die die Menschen hinter der Geschichte sieht. Ich glaube, nur das eine kann es gar nicht geben. Die politische Diskussion ist so wichtig, aber es ist eben auch wünschenswert, dass es Vielfalt gibt.
Wie verhindern Sie, dass Menschen für Fotos oder Geschichten "benutzt" werden?
Es gibt ein erstes Gefühl, das mir immer wichtig ist: Ich arbeite nicht über die Menschen, ich arbeite mit den Menschen. Es wird nicht funktionieren, wenn sie das nicht wollen. Solche Bilder würden sonst auch nicht zustande kommen. Ein respektvoller Umgang ist zentral. Es ist schwierig, mit Migration oder in Krisengebieten zu arbeiten, aber das Schlüsselwort ist Kommunikation. Das ist einfach Teil des Jobs als Fotojournalistin, dass ich die Grenzen der Menschen dort respektiere. Deshalb hatten wir auch einen Übersetzer, um sicher zu sein, dass sie wirklich verstehen, was wir sagen. Viel Nachfragen ist ein ganz wichtiger Teil. Dass ich ein Foto mache, ist das eine, aber dass ich dann nochmal sage: "Ich möchte das veröffentlichen, ist das ok für dich?" ist für mich eine Absicherung.
Bleiben Sie in Kontakt mit den Porträtierten, nachdem die Bilder entstanden oder veröffentlicht sind?
Nicht mit allen. Viele der Menschen, die ich vor zwei Wochen porträtiert habe, sind jetzt nicht mehr da. Andere sind auf dem Weg und kommen wieder zurück, aber sind dann in anderen Gebäuden. Ich verliere immer wieder den Kontakt. Mit zwei Menschen telefoniere ich ab und zu. Einerseits ist es für mich sinnvoll, zu wissen, wie sich die Situation entwickelt, weil ich ihren Weg begleiten will. Wenn sie es schaffen sollten, in eines der EU-Länder zu kommen, dort auch erst mal bleiben dürfen und Arbeit suchen, dann werde ich dorthin fahren und sie begleiten. Auf der anderen Seite tut es auch ihnen ganz gut. Es ist schön zu wissen, dass die Fotografin, die dich porträtiert hat, auch erzählt, was gerade mit den Bildern passiert.
Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Ihnen und den porträtierten Menschen in Bosnien beschreiben?
In erster Linie ist es ein Arbeitsverhältnis und ich muss auch da meine Distanz wahren. Bei einem Menschen ist es jetzt der 14. Versuch gewesen, über die Grenze zu kommen. Vor drei Tagen habe ich den Anruf bekommen, dass er wieder in Bihać ist und dass es ihm nicht so gut geht, dass es kalt ist. Sie wurden wohl auch verprügelt – da muss ich eine Distanz wahren, sonst drehe ich durch. Das muss ich mir auch bewusst machen, dass das mein Job ist und dass ich es nicht so nah an mich ranlassen kann, wenn ich weiter in Krisengebieten arbeiten will. Einen der Männer, sein Spitzname ist Danny, habe ich sehr lange begleitet. Einmal, wir waren gerade beim Arbeiten, kam er mit dem FaceTime Video um die Ecke, auf dem seine Mama gerade zu sehen war. "Ahhh look Sitara, my mom". Da entsteht natürlich eine Nähe und ich bekomme einen tiefen Einblick in ihr Leben. Die Männer sind teilweise so alt wie ich. Aber ich halte es immer so, dass ich noch arbeitsfähig bin, dass ich Bericht erstatten kann, ohne zu stark vorgefärbt zu sein. Neutralität gibt es nicht, aber es gibt eine realistische Berichterstattung, die muss ich beibehalten.
Nimmt man Anteil, wenn man Ihre Bilder anschaut?
Das ist natürlich schwierig, zu sagen. Ich nehme Anteil. Ich hoffe es. Die Porträtreihe aus Bosnien ist Berichterstattung, aber ich habe in meiner Fotografie auch den Anspruch, Nähe aufzubauen und den Menschen, der da irgendwo auf der Welt sitzt und sich das ansieht, zu sagen: Schau doch da mal hin. Das ist mehr als nur Bericht erstatten.
Sprechen die Bilder für sich selbst?
Ich denke schon. Wir leben in einem unglaublich schnellen Zeitalter, wir sehen unglaublich viele Informationen den ganzen Tag durch unsere Smartphones, durch Werbung, durch Bilder, die wir draußen wahrnehmen, und durch Instagram. Wir scrollen unglaublich viel herum. Wir sind hier und da und sehen so viel. Was mir dabei auf dem Herzen brennt, ist, dass wir Bilder zu wichtigen Themen einfach wieder mehr wahrnehmen, dass wir uns Zeit nehmen, um sie uns anzuschauen.
Schafft man es, den Ernst einer Situation zu zeigen, ohne Elend zur Schau zu stellen?
Auf einem Bild ist eine Landschaft zu sehen, ein Sandhügel und auf dem Sandhügel noch einmal ein kleinerer Hügel. Dahinter ist es wieder flach. Als ich aus Bosnien nach Hause kam, habe ich meiner Mutter das Bild gezeigt und sie gefragt: "Mama, was siehst du?" "Ja, Sand." "Was siehst du noch?" "Landschaft halt." "Das hier, das ist Bosnien, und das ist Kroatien und dazwischen ist nichts." Ich finde es spannend, mit meinen Fotos Fragen an die Rezipienten zurückzuwerfen. Viele Dinge fangen einfach so still an, auch dieses Bild, das ist leise und heimlich, und niemand, der es nicht weiß, würde bemerken, dass da eine Grenze ist; dass da Menschen in Elend leben, und dass sie verprügelt werden, wenn sie dort hinüberkommen. Das schafft man aber nicht mit jedem Projekt, und es kommt auch darauf an, was der eigene Anspruch an Fotografie ist. Ich kann die Porträtreihe aus Bosnien für sich stehen lassen, aber auch nur wegen der Multimediareportage. Am Ende habe ich beides – die Menschen und ihre ernste Situation.
Die Protestierenden im Dannenröder Wald bewegen sich an der Grenze der Legalität, die Männer an der Grenze in Bosnien werden illegalisiert, die Menschen leben auf unterschiedliche Weise für eine bestimmte Zeit in Gefahr. Haben Sie das Gefühl, dass auch Sie sich in Gefahr begeben, wenn Sie an solchen Orten arbeiten?
Ich habe schon das Gefühl, es ist schwieriger für mich als junge Frau, in Krisengebieten zu arbeiten als für männliche und als männlich gelesene Fotojournalisten. Als Frau werde ich einfach oft weniger ernst genommen, auch von Polizeikräften. Ich habe ein gutes Selbstbewusstsein und lasse mir das dann auch nicht nehmen. Ich bin schließlich da, um zu berichten. Die Situation in Bosnien kocht, und ich glaube, da ist es dann schon gefährlich. Es gab eine Situation, da wurde ein Gebäude geräumt, die geflüchteten Personen wurden rausgeholt. Sie mussten sich alle auf den Boden setzen. Eine Sondereinheit war da, hat sie umstellt, um sie nach Lipa zurückzufahren. Da war eine fotografische Berichterstattung schlicht nicht möglich. Die Einsatzkräfte haben mich auch nicht anerkannt als deutsche Journalistin. Es hieß dann nur, wenn ich was über Geflüchtete machen will, dann solle ich nach Lipa.
Könnten Sie die Gefahren irgendwann davon abhalten, weiter in Krisengebiete zu fahren?
Auf keinen Fall! Ich nehme mir vielleicht nach den Aufenthalten in diesen Gebieten zu wenig Zeit, um das für mich zu verarbeiten und wieder im eigenen Alltag anzukommen. Das muss ich mir manchmal bewusst machen. Es ist außerdem immer der Reiz da, etwas mitzuerleben. Das zu leugnen, wäre falsch. Aber ich als Person sollte bei der Arbeit nicht im Fokus stehen. Die Bilder sind einfach wichtig, damit andere Menschen die Dinge mitbekommen. Texte lassen uns Krisen verstehen, aber Bilder lassen sie uns erst begreifen.