Simone Fattal studierte Philosophie in Paris, war Künstlerin in Beirut und Verlegerin in Kalifornien, wohin sie mit ihrer Partnerin Etel Adnan – selbst Künstlerin und Autorin – nach Ausbruch des Bürgerkriegs im Libanon zog. Gerade hat sie den Großen Kunstpreis der Stadt Berlin erhalten. Außerdem gastiert sie im Pariser Louvre, um über die Antikensammlung und ihre Relevanz fürs Heute zu sprechen. Im Interview erzählt sie, wie wichtig Übersetzungen sind, sie berichtet von Beirut in den frühen 70ern und erklärt ihre Faszination für die alten Epen und die immer neuen Stoffe der Antike.
Simone Fattal, in der Begründung der Jury des Großen Kunstpreises Berlin – der Ihnen kürzlich verliehen wurde – heißt es, Ihre Arbeit zeuge von der Kraft des Geschichtenerzählens und seiner Fähigkeit, sich für die Menschheit einzusetzen. Verbindet das Geschichtenerzählen die vielen Disziplinen, in denen Sie gearbeitet haben?
Das ist sicherlich ein Teil meiner bildhauerischen Praxis, aber auch meiner Malerei. Manchmal wird eine Geschichte durch ein einziges Bild verkörpert. Meine erste große Skulptur war zum Beispiel Dionysos – und der Name allein sagt eine Menge aus. Bald darauf machte ich eine epische Installation mit dem Titel "Ulysses Leaving the City of Troy". Ich wollte eine Vorstellung von diesem Moment vermitteln – und von den Dingen, die er auf seiner Reise mitgenommen hat.
Was bedeuten Geschichten für Sie?
Bücher sind konstitutiv für mein Leben, und die Figuren haben für mich eine außerordentliche Wirklichkeit. Odysseus existiert, ebenso wie die Personen bei Balzac oder Proust. Aber in einigen Fällen, zum Beispiel beim Epos von Zhat el Himma, wollte ich die Geschichte zugänglich machen. Das Epos ist wenig bekannt, beinahe in der Geschichte verloren. Es gibt Hinweise, dass es im 8. Jahrhundert geschrieben wurde, also zur gleichen Zeit wie die Erzählungen aus "1001 Nacht", aber es erlangte nie den gleichen Ruhm. Trotzdem ist es ein sehr wichtiges Epos, der erste roman picaresque, ein Schelmenroman. Die Erzählung enthält alle Aspekte des Lebens und der damaligen Zeit. Ein Epos leistet aber mehr als ein Roman: Es ist länger, es nimmt sich Zeit, und seine Themen kehren wieder. Besser kann man nicht in eine andere Zivilisation eintauchen.
Dieses Epos – auf das Sie sich in einigen Ihrer Keramikskulpturen beziehen – erzählt die Geschichte einer weiblichen Protagonistin.
Sie ist eine weiblicher chevalier – ein Ritter – und gerne wäre sie unverheiratet geblieben. Aber sie wurde gezwungen. Dabei spielen geschlechterspezifische Aspekte eine Rolle, aber auch religiöse, denn sie repräsentiert den neuen Kalifen von Bagdad gegen das byzantinische Reich. Damals waren das die großen Zivilisationen im Mittelmeerraum. Das Epos ist 8000 Seiten lang. Ich würde vorziehen, in der Zeit der Epen zu leben, als man zusammenkommen, einem Erzähler zuhören und am nächsten Tag wiederkommen konnte, um den Rest zu hören. Man verbrachte Monate so, oder noch länger.
Sie haben nicht als Künstlerin angefangen, sondern Archäologie an der École du Louvre in Paris studiert.
Ich habe ein bisschen Archäologie studiert, mich dann aber an der Sorbonne für Philosophie eingeschrieben.
Heißt das, sie waren im Mai 1968 in Paris?
Leider habe ich 1968 verpasst. Kurz nach dem Sechstagekrieg, 1967, habe ich Paris verlassen, um nach Beirut zurückzukehren. Während der Unruhen war ich in London, und die Engländer sagten: Ach, die Franzosen, sie sind normalerweise so ruhig, aber wenn sie wild werden, dann richtig! Etel war dort. Sie unterrichtete zu jener Zeit in Kalifornien, verbrachte den Sommer in Beirut und legte einen Zwischenstopp in Paris ein. Sie hat den Mai '68 dort erlebt und war begeistert.
Damals kannten Sie die Künstlerin und Poetin Etel Adnan, Ihre spätere Partnerin, noch nicht.
Wir haben uns erst später getroffen, 1972.
Wussten Sie schon, dass sie Künstlerin werden würden, als Sie von Paris nach Beirut zogen?
Nein, überhaupt nicht. Ich hatte zwei Malerfreunde, die mir in Paris Leinwände und Farben schenkten, und ich habe ein paar Sachen gemalt, aber diese Bilder wurden weggeworfen. Die beiden Freunde gingen auch zurück nach Beirut, und eines Tages besuchte ich sie. Sie gaben mir Aquarellfarben und Papier, und ich fing ernsthaft an, über Malerei nachzudenken. Es war eine völlig neue Art zu sehen.
Diese Jahre müssen sehr aufregend in Beirut gewesen sein.
Das waren sie! Die Stadt war so lebendig, ein vielschichtiger Ort. Es brodelte – politisch, wirtschaftlich und auch kulturell. Es gab dreizehn Tageszeitungen: eine armenische, eine englische und eine französische, der Rest war auf Arabisch, und dazu kamen die Zeitschriften. Alle Intellektuellen aus den Nachbarländern kamen nach Beirut, entweder als Flüchtlinge oder weil in Syrien und Ägypten Zensur herrschte. Und dann eröffneten die Galerien. Als ich in der Schule war, gab es eine, und kurz darauf gab es so viele, bis heute.
Damals haben Sie auch einen Film gedreht.
1972, bevor ich Etel kennenlernte. Wir haben ihn auf Video gedreht.
Der Film heißt "Autoportrait", aber ist er auch ein Porträt der Stadt zu dieser Zeit?
Wir haben alles in meinem Studio gedreht, während wir miteinander sprachen. Dabei haben wir uns eigentlich nicht durch die Stadt bewegt. Aber wer den Film sieht, kann spüren, was für ein Ort das war. Vielleicht kann ich das nicht am besten beurteilen, aber alle, die Beirut besuchten, spürten diese Energie.
Gehörte Etel Adnan zu den Intellektuellen, die nach Beirut kamen?
Nein, sie ist in Beirut geboren und zur Schule gegangen. Dann ging sie in die USA, um ihren Master zu machen. Sie blieb dort und wurde Professorin.
Sie kehrte zurück, um als Redakteurin einer Zeitung zu arbeiten. Wie haben Sie sich kennengelernt?
Das war eine neue Zeitung. Jemand mit viel Geld strebte eine politische Karriere an, gründete die Zeitung und stellte junge Leute ein, darunter viele meiner Freunde und Etel, die gerade aus Kalifornien zurückgekehrt war. Sie wurde Kulturredakteurin, und jede Woche verantwortete sie fünf Seiten. Gleichzeitig konnte sie schreiben, was sie wollte. Man gab ihr viel Freiheit, und sie machte es sofort interessant. Sie war gleich eine Berühmtheit.
Haben Sie Beirut 1975 verlassen, als der Bürgerkrieg begann?
Nicht sofort. Ich wollte eigentlich nicht weg, und ich hatte mich für die Stadt entschieden. Erst 1980 bin ich weggegangen. Dann sind wir nach Kalifornien gezogen.
Dort gründeten Sie einen Verlag, Post Apollo Press.
Das war 1982. Der Name stammt vom Apollo-Raumfahrtprogramm, für das ich mich sehr interessierte.
Sie haben dann hauptsächlich Übersetzungen veröffentlicht?
Aus dem Deutschen, aus dem Französischen, aus dem Arabischen. Übersetzungen sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Kultur. Ohne sie wüssten wir überhaupt nichts.
Lyrik ist wichtig in der Geschichte des Verlags, und Gedichte sind bekanntlich schwer zu übersetzen. Das hat mich an Walter Benjamins Gedanken über die Aufgabe des Übersetzens erinnert. Er schreibt, dass verschiedene Sprachen sich gegenseitig ergänzen. Jede Übersetzung nähert sich der Bedeutung des Textes an, und in diesem Prozess wird das Geschriebene lebendiger.
Mag sein. Ich denke, Poesie ist eine eigene Sprache, die man erst lernen muss, genauso wie die Sprache der Malerei. Man kann Lyrik in vielen Übersetzungen lesen. Man kann sie oft lesen, und dabei versteht man verschiedene Dinge. Übersetzung gibt nur einen Aspekt des Textes wieder. Aber Prosa zu übersetzen, ist genauso schwierig – vielleicht sogar noch schwieriger. Lyrik ist eine exakte Wissenschaft, jedes Wort ist wichtig, während man bei Prosa ganze Sätze hat. Es ist nicht so stark verdichtet.
Ich habe "Sitt Marie Rose" von Etel Adnan gelesen. Sie haben den Roman in den USA veröffentlicht, und die Prosa ist im besten Sinne einfach.
Etel war schließlich Dichterin, und sie hat diese Einfachheit genutzt. Das ist Poesie.
Hat sie ursprünglich auf Französisch geschrieben?
Ja. Der Roman wurde übrigens gerade von Gallimard in Frankreich neu aufgelegt, mit einem Vorwort von mir. In diesem kleinen Buch ist alles auf sehr prägnante Weise gesagt.
Die englische Version wirkte so natürlich.
Die Übersetzerin hat auch hervorragende Arbeit geleistet. Sie war sehr jung und hat noch in Yale studiert. Wir waren mit ihrer Mutter befreundet, und sie bot sich als Übersetzerin an.
Wurde der Roman ein Bestseller?
Naja, er wurde als Underground-Bestseller bezeichnet. Dann wurde er an praktisch allen Fakultäten für Nahoststudien in den USA gelehrt. Schließlich begann die University of Texas in Austin, Romane aus der arabischen Welt zu verlegen, was für mich fantastisch war, weil ich dadurch keine Romane mehr veröffentlichen musste. Ich konnte mich ganz der Lyrik widmen. Das war das Schöne an Post Apollo Press: Der Verlag machte exakt so viel Arbeit, wie eine einzelne Person bewältigen konnte.
In Kalifornien haben Sie sich an der Universität auch für ein Bildhauerprogramm eingeschrieben und sich der Keramik zugewandt – ein radikaler Schritt nach der Malerei und dem Büchermachen, oder?
Das war ein langsames Projekt. Bevor ich 1987 damit anfing, sagten mir viele Leute, ich sollte mich doch der Bildhauerei zuwenden.
Warum?
Schon zuvor hatte ich Assemblagen gemacht, dann lernte ich einen Bildhauer kennen. Er arbeitete mit Bronze und hatte eine Menge Wachsarbeiten im Atelier. Diese Wachsfiguren sind genau das, was ich heute mache. Aber woher das kommt – das kann ich Ihnen nicht erklären.
Die Skulpturen haben etwas Archäologisches an sich. Hat das mit Ihrem Studium der Archäologie zu tun?
Ja, aber auch damit, dass ich Ausgrabungsstätten in Syrien, Jordanien und Ägypten besuche. Dort kann man heute noch weggeworfene Fragmente sehen – Teile von Säulen und Stelen, die einfach stehen gelassen wurden. Aber letztlich ähnelt meine Arbeit assyrischen oder sumerischen Objekten.
Woran arbeiten Sie derzeit?
Ich bereite meine Arbeit nicht vor. Ich folge meinem Instinkt und meinen Gedanken, an dem Tag, an dem ich arbeite. Als ich beispielsweise den Philosophen Giorgio Colli – einen großen Spezialisten für Mythen und Lyrik – gelesen habe, fing ich an, mich mit Odysseus zu beschäftigen. Ich denke an Dionysos, ich denke an Gilgamesch, und dann setze ich das um. Jedes Mal ist neu.