Die Künstlerin und Regisseurin Shirin Neshat umkreist in ihren Werken die Träume der Menschen. In ihrem neuen Film "Land of Dreams", der in einer nahen Zukunft spielt, ist es die junge in Iran geborene Simin, die im Auftrag einer US-amerikanischen Bundesbehörde, dem "Census Bureau" aufzeichnet, wovon die Bürger träumen. Mit ihrem Spielfilmdebüt "Women without Men" lieferte Neshat 2010 einen eindrucksvollen Film über die politischen Ereignisse in Iran 1953, ihr neuer Film zeigt die Perspektive einer Frau, die weder die Herrschaft des Schahs noch die Machtergreifung Chomeinis miterlebt hat und sich in den USA zu Hause glaubt. Trotzdem zieht sich die Erinnerung an die Revolution durch den gesamten Film. Im Interview spricht die Künstlerin und Regisseurin darüber, wie sie die aktuellen Proteste in Iran, ausgelöst durch den Tod der 22-jährigen Mahsa Jina Amini vor zwei Wochen, wahrnimmt, und über Geschichte, die sich wiederholt.
Shirin Neshat, wie fühlen Sie sich angesichts der aktuellen Situation in Iran? Auf Instagram beteiligen Sie sich sehr engagiert an den Diskussionen.
In Iran findet gerade ein sehr spannender und historischer Moment statt, es ist aber auch eine extrem heikle Situation mit viel Gewalt. Sowohl innerhalb und als auch außerhalb des Landes ist man euphorisch angesichts der Proteste, aber gleichzeitig sind wir äußerst besorgt um die jungen Männer und Frauen, die auf den Straßen ihr Leben riskieren. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, lese ich mir die Nachrichten durch und frage mich, ob es der Regierung gelungen ist, die Proteste niederzuschlagen. Aber es scheint, dass die Bewegung aller Brutalität zu Trotz und der vielen Menschen, die sie verhaftet und getötet haben, weiter voranschreitet und tatsächlich zur nächsten Stufe führt, nämlich von den Protesten hin zu Streiks, und das könnte den Staat zum Stillstand bringen. Am schönsten finde ich, dass diese Bewegung von iranischen Frauen angeführt wird und möglicherweise die erste weibliche Revolution in der Weltgeschichte sein könnte. Für mich als iranische Künstlerin, deren Arbeit sich immer auf die Stärke der iranischen Frauen konzentriert hat, die in einer solch unterdrückerischen Gesellschaft leben, war es so überwältigend zu sehen, wie diese Frauen uns gezeigt haben, wozu sie fähig sind, und sich der Regierung entgegenstellen. In den letzten zwei Wochen habe ich die sozialen Medien verfolgt und war erschüttert und gleichzeitig inspiriert von den Bildern und Videoclips mutiger iranischer Frauen, die sich öffentlich entblößen und manchmal sogar körperlich in Konfrontation mit den Revolutionswächtern gehen. Das Ausmaß der öffentlichen Zurschaustellung von Wut und Frustration durch iranische Frauen ist beispiellos in der iranischen Geschichte.
Mahsa Amini, die 22-jährige iranische Frau, deren Tod die Proteste auslöste, war Kurdin. Daher wird ihr kurdischer Name zunehmend in den sozialen Medien verwendet: Jina. Glauben Sie, dass diese Tatsache zu mehr Solidarität zwischen den Frauen in Iran führen wird - weil sie alle die Erfahrung teilen, dass ihnen ihre Rechte von der Regierung genommen wurden?
Die Kurden sind eine Minderheit in Iran und wurden immer schlecht behandelt, vor allem von der Islamischen Republik Iran, sodass die Ermordung einer unschuldigen jungen Kurdin im Urlaub in Teheran einen Nerv bei allen Iranerinnen und Iranern getroffen hat. Ich glaube jedoch, dass es weniger darum ging, dass sie Kurdin war, sondern dass sie eine Frau war. Der Tod von Mahsa Amini hat die tiefe Wut und Frustration der iranischen Frauen über eine Regierung zum Ausdruck gebracht, die ihre Körper als Schlachtfeld für ihre eigene politische, ideologische und religiöse Rhetorik benutzt hat. Jetzt sagen die Frauen: "Genug ist genug, ich will frei sein, lasst eure Hände und eure Religion von meinem Körper." Diese Form des weiblichen Widerstands ist unter den kurdischen Frauen bemerkenswert deutlich geworden. Erst vor ein paar Tagen habe ich Videos einer Gruppe kurdischer Frauen in Syrien gesehen, die aus Solidarität mit den Frauen in Iran und als Reaktion auf die Ermordung von Mahsa ihre Haare abschgeschnitten haben und durch die Straßen marschiert sind. Das war ein starkes Zeichen der Solidarität. Diese Frauen sind dieselben, von denen bekannt ist, dass sie bewaffnet gegen Isis kämpfen. Es gab auch Frauen aus anderen Ländern des Nahen Ostens, die ihre Stimme zur Unterstützung erhoben haben. Sie haben einen arabischen Vornamen, nicht wahr? Darf ich fragen, woher Sie kommen?
Mein Vater ist Ägypter, ich bin in Kairo aufgewachsen.
Ich habe einige Zeit in Ägypten verbracht, und ich habe den Eindruck, dass das Tragen des Hidschab in Ägypten eine persönliche Entscheidung ist und keine Pflicht. Tatsächlich tragen viele Frauen den Hidschab, weil er eher folkloristisch und traditionell ist. Das hat nicht einmal unbedingt etwas mit Religion zu tun. Und selbst wenn sie ihn aus religiösen Gründen tragen, ist es ihre eigene Entscheidung und nicht die der Regierung, was ganz wunderbar ist. Leider wird den Frauen in einer Diktatur wie in Iran die Entscheidung genommen.
In Ihrem Werk stehen Sie dem religiösen Fundamentalismus kritisch gegenüber, sowohl dem islamischen als auch dem christlichen Fundamentalismus, aber Sie haben auch eine tiefe Wertschätzung für die islamische Kultur, der Poesie und der visuellen Sprache, und auch für die islamische Mystik und den Sufismus. Liegt darin eine gewisse Ambivalenz?
Ich spreche in meiner Arbeit Themen an, die ich für besonders relevant für unsere Zeit halte und die tief in den soziopolitischen und religiösen Realitäten verwurzelt sind. Mit der Serie "Women of Allah" (1993-97), die die religiöse Inbrunst nach der islamischen Revolution von 1979 einfing, konzentrierte ich mich zum Beispiel auf das Thema "Märtyrertum", das sehr populär und von der Regierung fast schon institutionalisiert war. Ich hinterfragte schlicht die emotionale, körperliche und moralische Lage von Frauen, die freiwillig militant wurden, und untersuchte diese Schnittstelle von Liebe, Hingabe, Glauben und Gewalt, Grausamkeit und Tod. Seitdem habe ich mich von dezidiert politischen Arbeiten entfernt und mich einer eher poetischen und allegorischen Arbeitsweise zugewandt, sowohl in der bildenden Kunst als auch im Film.
Wenn man den Titel Ihres neuen Films "Land of Dreams" liest, denkt man an den "American Dream", an Hoffnungen und Ziele. Aber am Ende ist es ein Film über die Ängste, die in den Träumen liegen, gerade für die marginalisierten Menschen im Film.
Der Film ist eine Parodie auf die USA und stellt die Identität dieses Landes in Frage, das sich traditionell als das "Land der Träume" rühmt – Amerika als ein Ort, der Einwanderer willkommen heißt, die Heimat der Träumer, wo sich Hoffnungen erfüllen – und dass sich dieses Bild des Landes langsam wandelt. Wir haben in New Mexico gedreht, einem der ärmsten Bundesstaaten der USA, in dem eine große indigene Gemeinschaft lebt und viele hispoamerikanische Einwanderer, die von den sozialen und politischen Veränderungen des letzten Jahrzehnts direkt betroffen sind. So wurden der Film und die damit verbundenen künstlerischen Arbeiten wie Fotografien und die Videoinstallation, die bis Ende April in meiner Ausstellung "Living in One Land, Dreaming in Another" in der Pinakothek gezeigt wurden, zu einer Art Porträt Amerikas aus der Sicht einer iranischen Immigrantin. Auf einer persönlichen Ebene war ich von Träumen besessen – von meinen eigenen Träumen und davon, wie sie immer meine eigenen Ängste und Befürchtungen projiziert haben – und langsam kam ich zu der Erkenntnis, dass Träume im Allgemeinen von unseren individuellen und kollektiven Ängsten handeln. Oft handeln sie von Gewalt, Krieg, Krankheit, Vertreibung, Verlassenwerden und Tod. Die Ausgangsidee bei "Land of Dreams" war, dass mich faszinierte, wovon die Amerikaner träumen, und ich überlegte, wie ihre Regierung auf absurde und satirische Weise die Träume und Ängste ihrer Bürger in naher Zukunft ausspionieren könnte.
In dem Film spielt Sheila Vand eine in Iran geborene Frau in den USA, Simin, die für eine US-amerikanische Behörde arbeitet. Ihre Aufgabe ist es, an die Türen der Menschen zu klopfen, um ihre Träume aufzuzeichnen.
Ja, sie ist eine Agentin für das "Census Bureau" und geht von Tür zu Tür, um Daten zu sammeln, aber am Ende stellt sie eine unerwartete Frage: "Können Sie mir Ihren letzten Traum erzählen?" In dem Film besucht sie sechs verschiedene Haushalte mit unterschiedlichem ökonomischen und ethnischen Hintergründen. Und während sie in die Leben der Menschen eintritt und ihre Träume sammelt, entdeckt sie mehr und mehr, dass sich die Träume dieser US-Amerikanerinnen und -Amerikaner gar nicht so sehr von ihren eigenen unterscheiden.
Sie haben Iran verlassen, als Sie erst 17 Jahre alt waren. Und in den 1990er-Jahren sind Sie für eine Weile in Ihre Heimat zurückgekehrt. Könnten Sie sich vorstellen, jemals wieder dort zu leben?
Erst gestern fragte mich jemand: Wenn sich morgen das Tor öffnet und es eine Revolution gibt, würdest du dann nach Iran zurückkehren? Natürlich würde ich zurückkehren. Aber wäre ich in der Lage, dort dauerhaft zu leben, in einer homogener Gesellschaft, in der jede und jeder aussieht wie ich, jede und jeder spricht wie ich? Ich weiß nicht einmal mehr, wie sich das anfühlt. Ich glaube, diese Erfahrung der Vertreibung hat sich tief in mir eingegraben, das Leben als Immigrantin, als Nomadin ist ein Teil von mir geworden. Ich bezweifle, dass ich jemals wieder auf eine andere Weise leben kann.
Besonders als New Yorkerin.
Ich gehöre hier nach New York, wo ich von so vielen Menschen umgeben bin, die Migration erfahren haben und zwischen den Kulturen leben. Ich wäre niemals in der Lage, vollständig östlich oder vollständig westlich zu sein, und deshalb kann ich niemals vollständig an einen Ort zurückkehren, an dem eine der beiden Kulturen vorherrscht. Ich bin tief in der iranischen Gemeinschaft verwurzelt und gehe immer zu den Protesten. Ich bin mit der iranischen Gemeinschaft sehr verbunden. Mein Mann (der Co-Regisseur des Films, Shoja Azari) ist Iraner, also fühle ich mich überhaupt nicht entfremdet.
Stehen Sie in Kontakt mit den Teilen Ihrer Familie, die noch in Iran leben?
Ich spreche jeden Tag mit meiner Mutter und meinen Schwestern. Ich merke, dass sie oft Angst haben, offen am Telefon zu sprechen. Heute hat meine Schwester vor allem über das Wetter geredet und die politischen Themen gemieden. Ich glaube, sie macht sich Sorgen, dass ihr Telefon abgehört wird, was verständlich ist. Die ältere Generation steht hinter den jungen Leuten. Gleichzeitig hat sie Angst vor der Zerschlagung der Proteste, dem Blutvergießen und der Ungewissheit über die Zukunft. Für uns, die wir außerhalb des Landes leben, ist das anders. Es ist ein sehr zehrender Moment in Iran, weil wir am Rande einer Revolution stehen könnten. Und wir haben während der Grünen Bewegung in Iran 2009 gesehen, dass dies leider zu verheerenden Ergebnissen führen kann. Volksaufstände in Iran sind vor allem in den letzten Jahren keine Seltenheit. Sie fangen oft stark an und verlieren dann unter dem Druck der Regierung langsam an Momentum, aber dieses Mal ist etwas anders: Die jungen Leute geben nicht auf. Je mehr die Regierung versucht, sie zu unterdrücken, desto stärker kommen sie zurück. Es ist also gut möglich, dass sie Erfolg haben werden – ich hoffe es.