Filmemacherin Shirin Barghnavard

"In Krisen kehren wir zum Nationalismus zurück"

Shirin Baghnarvard "Invisible" (Filmstill)
Foto: Mohammad Reza Jahanpanah

Shirin Baghnarvard "Invisible" (Filmstill)

Die iranische Künstlerin Shirin Barghnavard behandelt in ihren Filmen Themen wie Vorurteile und Nationalstolz. Im Interview spricht sie über ihre Arbeit mit der Berliner Mauer und das Erstarken von Grenzen in der Pandemie


Shirin Barghnavard, ich würde gern mit Ihrem Film "Invisible" beginnen. Darin zeigen Sie Reste der Berliner Mauer, Archivaufnahmen und Menschen, die über ihre Erfahrungen mit Nationalität sprechen. Warum ist die Berliner Mauer ein Startpunkt dafür?

Als ich Stipendiatin am Harun-Farocki-Institut war und zum Konzept von Nation geforscht habe, lebte ich in Kreuzberg, ganz in der Nähe der Spree. Dort steht das längste erhaltene Stück der Mauer. Jeden Tag bin ich daran vorbeigegangen. Gleichzeitig habe ich zu den Themen Vorurteil und Nationalismus recherchiert – den unsichtbaren Trennungen.

Ganz am Anfang des Films steht der Satz "Die Überreste der Mauer umgibt eine seltsame Stimmung". Können Sie diese Atmosphäre beschreiben?

Das warf einen Schatten auf mein Denken, und deshalb ist die Berliner Mauer in jeder Einstellung meines Films zu sehen. Wir alle kennen das Konzept von Grenzen. Wir müssen sie ständig überqueren. Ich habe zwar über die Mauer gelesen, aber ich hatte nie Gelegenheit, ihre Gegenwart zu spüren.

In Ihrem Film gibt es immer wieder Aufnahmen von Menschen die "Wir sind das Volk" skandieren. Damals ein Ruf nach Befreiung und Demokratie, Ende der 80er. Heute wird das manchmal immer noch gerufen. Aber jetzt geht es selten um Freiheit und Demokratie, sondern um Ausschluss von, beispielsweise, Migrant:innen. Sie lassen für "Invisible" hingegen ganz andere Stimmen zu Wort kommen, vor allem Menschen, die ein weniger simples Verständnis von Deutschland und von Nation haben. Wer ist das, und wie haben Sie die ausgewählt?

Ich hätte mit Politiker:innen und Aktivist:innen sprechen können, aber am Ende sind das vor allem Theoretiker:innen, Künstler:innen und Journalist:innen geworden. Das Harun-Farocki-Institut hat mich mit vielen Leuten in Verbindung gebracht, und mit jedem Gespräch entstand eine Verbindung zu jemand neuem. Insgesamt habe ich mit 40 Künstler:innen und Theoretiker:innen gesprochen, zugleich habe ich aber auch Migrant:innen aus dem Irak und Kurdistan besucht, die illegal nach Deutschland gekommen sind.

Was haben Sie diese Leute gefragt?

Eigentlich drehten sich das um meine eigenen Fragen: Was bedeutet Nationalität, wie definiert uns das? Deshalb wollte ich wissen, ob ihnen je etwas wegen ihrer Nationalität widerfahren ist. Damals dachte ich, dass nur Menschen aus dem Nahen Osten oder Lateinamerika etwas dazu sagen könnten. Später fand ich aber heraus, dass das globale Fragen sind. Interessant war der Preis, den das Deutschsein nach dem Zweiten Weltkrieg kostete. Die Künstlerin Alice Creischer erzählt, wie ihre Tochter in den USA gefragt wurde, ob sie Hitler gut fände. Der brasilianische Autor Vinicius Jatobá spricht über Nationalität als eine Bürde. Den Journalisten Knut Elstermann habe ich nach Nationalstolz gefragt, und er sagte, dass er sich mit vielen Teilen deutscher Kultur gar nicht identifizieren kann. Wagner zum Beispiel.

Wagner ist aber auch sehr deutsch, darin steckt ja schon eine Menge Größenwahn und vielleicht auch Nationalstolz.

Elstermann findet Bach einfach besser. Aber auch das hat für ihn nichts mit Stolz zu tun, bloß weil Bach Deutscher war. In vielen Gesellschaften ist es ein mutiges Statement, gerade nicht stolz zu sein. Viele Iraner zum Beispiel empfinden Stolz für ihre Nation und ihre Geschichte, das Persische Reich.

Das zurückhaltende Verhältnis zum Nationalstolz ist – glaube ich – ziemlich verbreitet in Deutschland. Man weiß ja auch, wie toxisch das sein kann.

Aber sobald es zu Krisen kommt, kehren wir zum Nationalismus zurück. Covid hat das Konzept von Grenzen wiederbelebt, ebenso wie unsere Vorurteile. Beispielsweise mit dem Hass gegenüber Chinesen, von denen es hieß, sie hätten das Virus in die Welt getragen.

Hat die Pandemie nicht auch die dialektische Natur von Grenzen gezeigt? Denn sie schließen nicht nur aus, sie schützen auch. Und da geht es ja nicht um die Menschen, die draußen bleiben sollen, sondern um das Virus, oder?

Covid war ein Schock, und die Grenzen zuzumachen schien logisch, aber das hat sie eben auch wieder gestärkt.

Ich frage mich, wie “Invisible” an ihre vorherigen Dokumentarfilme anschließt.

Alle meine Filme drehen sich um etwas, das ich für wichtig halte. Zum Beispiel habe ich den autobiographischen Film “21 Days and Me” gemacht, da geht es um Mutterschaft. Die verbreitete Haltung im Iran ist, dass eine Frau erst durch Mutterschaft vervollständigt ist. Das stelle ich in Frage. Es ist hier unkonventionell, keine Kinder zu haben, obwohl man einen Mann hat.

Ihre Filme behandeln oft die Rolle der Frau in der iranischen Gesellschaft?

Ja. Gemeinsam mit meinem Mann habe ich den Film "Scenes from a Divorce" gedreht, in dem wir ein ein Paar begleiten, das sich scheiden lässt, allerdings ohne den Eltern Bescheid zu sagen. Deshalb leben sie weiter zusammen, haben aber eine gewisse Freiheit, besonders die Frau. Eine faszinierende Situation! "Profession: Documentarist"  (2014) habe ich gemeinsam mit sechs anderen Independent-Filmemacherinnen aus Teheran gemacht. Im Nachgang der politischen, sozialen und ökonomischen Krise nach den Wahlen von 2009 im Iran haben wir über Persönliches und den Beruf gesprochen, über Sorgen und Herausforderungen. Daraus ist ein siebenteiliger, teils autobiographischer Film geworden.

Ich frage mich, was es bedeutet, einen Dokumentarfilm zu machen. Da steckt sehr viel von Ihnen in den Filmen – sie richten ja nicht einfach die Kamera in die Welt und warten, was passiert.

Ich habe auch einen Film gemacht, "Poets of Life" (2017), der von einer erfolgreichen Reisfarmerin, Unternehmerin und Frauenrechtlerin handelt. In diesem Film sieht man nicht viel von mir. Aber allgemein würde ich sagen, dass ich keine Angst habe, mich im Film zu zeigen. Ich finde es sehr spannend, nicht ausschließlich die Kamera auf andere zu richten, sondern auch etwas über mich selbst zu sagen. In "Scenes from a Divorce" (2015) hört man unsere Stimmen auch hinter der Kamera, und wir sind im Film anwesend. Ich bin kein Fan von rein beobachtenden Dokumentarfilmen. Deswegen mag ich übrigens Harun Farocki so sehr. Für mich war er ein Revolutionär.

Zu seiner Zeit hat er einige Türen für den Film aufgestoßen.

Als Stipendiatin in Berlin hatte ich das Privileg im Arsenal – Institut für Film und Videokunst seine Filme zu sehen. Besonders habe ich mich über "Videogramme einer Revolution" gefreut, denn für diesen Film ist Farocki im Iran bekannt. Mit seinem einfachen Stil, und mit seinem geduldigen Blick für Details ist es, als würde er nach Antworten auf seine Fragen suchen. Zugleich fordert er dazu auf, an der reinen Oberfläche der Ereignisse zu zweifeln.

Ist das auch Ihr Ziel?

Ja. Jeder Film hilft mir, mehr über ein Thema herauszufinden. Filmemachen ist ein ständiges Forschen.