Herr Mroué, in Ihren Stücken übernehmen Sie oft die Rolle eines Geschichtenerzählers. Ihre neue Theaterarbeit "So little time", die bei der Wiesbaden Biennale Premiere feiert, untersucht Selbstdarstellungen und Abbilder von Märtyrern. Erzählen Sie dem Publikum eine Heldengeschichte, wie man sie aus der Tradition der arabischen Geschichtenerzähler kennt?
Im Gegenteil, der Protagonist in "So little time" ist ein Anti-Held. Anhand seiner Biografie wird das Scheitern einer ganzen politischen Bewegung erzählt. Es geht um den ersten libanesischen Märtyrer, der im Zuge der Palästinensischen Befreiungsbewegung gefallen ist. Er war in den 60er-Jahren der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) beigetreten. 1968 verschwand er plötzlich und drei Jahre später wurde seine Leiche von der israelischen Armee im Austausch für Gefangene in den Libanon geschickt. Die libanesische Regierung organisierte daraufhin eine nationale Ehrenfeier und errichtete dem Gefallenen ein Denkmal. Zwei Jahre später fand ein weiterer Gefangenenaustausch statt und es stellte sich heraus, dass der Totgeglaubte noch lebte. So kam er also zurück in den Libanon und das ganze Volk, die Regierung und Politiker standen unter Schock. Wie kann ein Märtyrer noch lebendig sein und was geschah jetzt mit seinem Denkmal? Und wie soll jemand damit umgehen, seinem eigenen Mythos zu begegnen? "So little time" setzt genau bei diesem Konflikt zwischen Selbstbild und Fremdbestimmung an und verlängert die Geschichte bis in unsere Gegenwart hinein.
Ihre Performances beschäftigen sich meist mit der politischen Situation im Libanon und im Nahen Osten. Sie selbst sind während des libanesischen Bürgerkriegs aufgewachsen, viele Ihrer Stücke greifen auf diese Erfahrung zurück. Kann man einem Publikum eine so komplexe Tragödie wie den Krieg verständlich machen?
Es geht in meinen Arbeiten nicht darum, zu erklären. Denn wie kann man jemandem etwas verständlich machen, das man selbst nicht versteht? Ich kann nur versuchen, gute Fragen zu stellen, Gedanken mit dem Publikum zu teilen und es mit unfertigen Ideen zu konfrontieren. In dieser Hinsicht unterscheide ich mich als Künstler von einem Politiker. Während dieser das Publikum von seinen vorgefertigten Gedanken und Ideologien überzeugen will, komme ich als Künstler auf die Bühne, um meine Zweifel mit anderen zu teilen und gemeinsam mit dem Publikum nach Antworten zu suchen.
Glauben Sie, Ihre Stücke sind schwer zu verstehen für jemanden aus einer westlichen Kultur, der die politische Situation im Nahen Osten und Bilder des Krieges nur aus Zeitungen, Fernsehen oder dem Internet kennt?
Wenn ich meine Stücke mache, denke ich nicht darüber nach, ob die Arbeiten in Deutschland oder im Libanon aufgeführt werden. Wenn man damit anfängt, läuft man Gefahr, einem bestimmten Publikum gefallen zu wollen oder Dinge zu vereinfachen. Ich gehe immer davon aus, dass das Publikum reif genug ist, um meine Arbeiten zu verstehen. Selbst wenn jemand aus einer westlichen Kultur nichts über die Geschichte des Libanons weiß, kann er das, was auf der Bühne sieht, auf seine eigene Geschichte übertragen und seine eigene Interpretation finden.
… so beleuchtet beispielsweise "Ode to Joy" die palästinensische Revolution und nimmt dabei Bezug auf das Attentat von 1972 während der Olympischen Spiele in München …
Genau solche Bezüge finde ich interessant, für den Künstler und den Zuschauer. Wenn jemand aus Deutschland, der nicht viel über meine Geschichte weiß, eine Verbindung zu seiner eigenen Geschichte herstellen kann. So begegnen sich beide auf Augenhöhe, es gibt weder Lehrer noch Schüler. Und dass jeder dem Stück seine eigene Interpretation und sein eigenes Wissen hinzufügt, bereichert die Arbeit umso mehr.
In "Riding on a cloud" bringen Sie Ihren Bruder Yasser auf die Bühne, der im libanesischen Bürgerkrieg verletzt wurde und seine Fähigkeit verlor, die Wirklichkeit von Abbildern zu unterscheiden. Viele Ihrer Arbeiten beschäftigen sich mit den Verflechtungen von Fiktion und Realität.
Das liegt daran, dass ich nicht weiß, was es bedeutet, objektiv oder subjektiv zu sein. Nimmt man zum Beispiel die Wissenschaft: Viele Menschen würden unterschreiben, dass eins plus eins gleich zwei ist. Trotzdem gibt es immer jemanden, der vielleicht eine andere Theorie hat und für den das Ergebnis ein anderes ist. Jede Wirklichkeit kann angezweifelt werden. Ich finde es wichtig, dem Publikum dies vor Augen zu halten. Wir sollten nicht zwischen Realität und Fiktion unterscheiden, sondern die Geschichte so akzeptieren, wie sie ist.
Sie arbeiten viel mit gefundenen Dokumenten. Ihre documenta-Arbeit "The Pixelated Revolution" greift auf Internetvideos von syrischen Demonstranten zurück. Was interessiert Sie an der Arbeit mit bereits existierendem Material?
Mit all den neuen Technologien und sozialen Medien werden heutzutage sehr viele Bilder und produziert. Als Künstler sollte man sich darüber bewusst sein, dass die Medien einen starken Einfluss haben, sie benutzen Bilder, um Geschichten zu produzieren. Meiner Meinung nach sollten Künstler keine neuen Bilder schaffen, sondern mit dem arbeiten, was bereits existiert. Viele meiner Performances beschäftigen sich mit der Frage der Glaubwürdigkeit von Dokumenten. Mir geht es darum, Bilder neu zu betrachten und zu interpretieren.
Sind Sie ein politischer Künstler?
Ja, natürlich bin ich ein politischer Künstler, aber ich bin kein Politiker, der Kunst macht. Es gibt viele Politiker oder Aktivisten, die Politik unter dem Decknamen von Kunst oder Theater betreiben. Ich verstehe "politisch" auf eine andere Weise, vielleicht eher wie Hannah Arendt es verstand. Sie betrieb eine politische Theorie, in der es viel darum ging, dass wir auf unsere Menschheitsrechte bestehen sollten, auf unsere Freiheiten, wir sollten uns Zeit nehmen, Fragen zu stellen. Wenn du das machst, dann bist du politisch.