Nikolai Estis über den Ukraine-Krieg

"Kunst stillt den Schmerz, verleiht Hoffnung – und bietet eine Heimat"

Der Künstler Nikolai Estis hat sowohl ukrainischen als auch russischen Hintergrund und malt heute bei Hamburg mit geflüchteten Kindern. Ein Gespräch über Verzweiflung, Krieg, Exil und Neuanfänge


Nikolai Estis, Ihre Biografie und Ihr Werk sind sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland eng verbunden. Wie fühlen Sie sich angesichts der jetzigen Kriegssituation?

Die Ereignisse bringen mich zur Verzweiflung. Menschen werden umgebracht, die Welt bricht zusammen.

Schon in der Kindheit haben Sie Krieg miterlebt – 1941 den Zweiten Weltkrieg in der Ukraine. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebte unsere Familie in einem typischen jüdischen Schtetl in der Ukraine, in Chmilnyk, unweit der Stadt Winnyzja. Im Jahr 1941 wurde mein Vater nach Kiew zu einer Schulung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei beordert, während wir in Chmilnyk blieben. Wir, das waren meine Mutter, meine neunjährige Schwester Maja und ich, der fünf Jahre jüngere Sohn. Für meine Schwester wie auch für meine Mutter, die Lehrerin war, begannen im Juni die Sommerferien, also machten wir uns am 20. Juni nach Kiew auf, zu meinem Vater. Am Sonntag, den 22. Juni, wollten wir zusammen in den Zoo. Doch Sonntagmorgen begann der Krieg.

Und dann?

Gleich in den ersten Tagen meldete sich Vater, der nicht wehrpflichtig war, freiwillig zum Dienst und ging an die Front. Wir blieben zurück und wurden bombardiert. Vor den Bombern versteckte man sich – warum auch immer – unter den Bäumen. Ich erinnere mich sehr genau: Der Himmel war erfüllt von farbigen Ungeheuern. Die Ungeheuer sprangen, hüpften, schlugen Purzelbäume, stürzen sich auf uns und verschwanden dann wieder.

Ungeheuer?

Das waren die Strahlen der Suchscheinwerfer, die aufflackernden und verlöschenden Alarmpatronen, die Lichter der Bomber. Ich erinnere mich nicht an die Geräusche – nur an die Farben. Das war mein erster einschneidender Farbeindruck. Ein berauschender, atemberaubender Eindruck. Ich hatte keine Angst, ich riss mich von meiner Mutter los und lief umher. Ich war gebannt von Farbe und Licht.

Vielleicht sind in den expressiven Farbspritzern Ihrer Werke Spuren dieser ersten Farberfahrung konserviert?

Wer weiß …

Später zogen Sie für das Kunststudium aus der Ukraine nach Moskau. In Ihrem sowjetischen Pass war jedoch als Nationalität "Jude" angegeben, und so haben Sie sich auch verstanden. Haben Sie so etwas wie eine Heimat?

Meine Beziehung zum Heimatland - welches wäre das überhaupt? -, genauer gesagt, zum Begriff "Heimat", ist kompliziert. Ich habe nie versucht, sie festzuschreiben. Jedenfalls verspüre ich keinerlei Ehrfurcht vor irgendeinem Ort. Obwohl ich viele Orte mag. Da ich meine Werke sehr ungern verkaufe, bemerkte eine Kunsthistorikerin einmal: "Offenbar wollen Sie für sich einen Sarkophag aus Ihren eigenen Werken errichten!" Vielleicht ist ein Sarkophag aus Leinwänden und Blättern gar nicht so übel? Vielleicht ist genau das meine Heimat.

Eine schöne Vorstellung – in einer solchen Kunstheimat könnte man sich frei fühlen. In Russland hingegen haben sich Zensur und Instrumentalisierung der Kunst in den letzten Jahren radikal verschärft. Als Sie in der Sowjetunion lebten und arbeiteten, herrschten ebenfalls Zensur, Druck und Repression …

Zur Sowjetzeit war ich in Russland ständig mit der Zensur konfrontiert: Das fing schon in den 60er-Jahren an, als ich zum ersten Mal ein Werk für eine Ausstellung des Künstlerverbandes einreichte. Es handelte sich um eine Reihe grafischer Arbeiten, die beinahe naturgetreu Ansichten eines Klosters abbildeten. Meine Arbeiten wurde ohne jegliche Begründung abgelehnt. Kurz darauf erhielt ich jedoch eine Einladung, zwei Monate lang im Tscheljuskinskaja-Kunsthaus zu arbeiten, unter hervorragenden Bedingungen, einschließlich Druckwerkstatt. Die Einladung kam überraschenderweise von ebenjenem Ausstellungskomitee. Das heißt, sie schätzten meine Arbeit, aber das "religiöse Thema" war für die sowjetischen Zensoren inakzeptabel: "Bewilligungsunfähig" lautete das Verdikt.

So bezeichnete man alles, was keine Chance hatte, von den verschiedenen behördlichen Kontrollinstanzen durchgewunken zu werden?

Korrekt. Auch in jenem Künstlerhaus gab immer einen Gruppenleiter, der darüber wachte, wer was tat. Dabei handelte es sich um sogenannte "Volkskünstler" oder "Verdiente Künstler", also solche, die von der Sowjetregierung ausgezeichnet worden waren. Am Ende des zweimonatigen Aufenthalts trat ein Komitee des Künstlerverbands zusammen, das sich ebenfalls aus solchen Volks- und verdienten Künstlern zusammensetzte, und vor diesem Komitee musste man über seine Arbeit Rechenschaft ablegen. Unter derartigen Bedingungen mussten manche in ihrem Stil freieren Künstler ständig befürchten, missbilligt zu werden. "Innere Zensur" kam ins Spiel. Schließlich war allen genau bekannt, was in der Kunst erlaubt war und was nicht.

Wie gingen Sie damit um?

Etwa zehn Jahre später war ich wieder in diesem Kunsthaus und beschloss, einige meiner Blätter als Lithografien umzusetzen, da diese Art des Drucks unter häuslichen Bedingungen nicht durchführbar war. Um zur lithografischen Druckwerkstatt zugelassen zu werden, musste jedes einzelne Blatt vom Gruppenleiter abgesegnet und signiert werden. Mein Gruppenleiter war ein Moskauer Grafiker – noch nicht sehr alt, aber bereits ein "Verdienter". Ich brachte ihm eines meiner Blätter zur Unterschrift. Er hielt es lange in den Händen und sagte dann: "Nichts für ungut, Kollege, aber das werde ich nicht unterschreiben. Wenn du den Rest deines Lebens im Kerker verbringen willst, dann bitte sehr, aber ich habe es nicht vor."

Das heißt, er wäre möglicherweise selbst unter die Räder gekommen, wenn er das Bild durchgewunken hätte?

Ja, das wäre sehr wahrscheinlich gewesen. Zurück in meinem Zimmer hängte ich das Blatt jedenfalls an die Wand. Ich hatte einen Band mit Gedichten von Federico García Lorca dabei, und während ich darin las, schaute ich unversehens immer auf mein Blatt. In einem bestimmten Augenblick bemerkte ich, wie sich eine Zeile von Lorca, die ich gerade gelesen hatte, wie von selbst in das Bild einfügte: "Des Wassers Lied ist unendlich – welchen Einklang bringt es, aus dem Stein hervorbrechend!" Nachdem ich diesen Satz in das Bild hineingeschrieben und den Namen des Autors unter dem Zitat angegeben hatte, erschien ich erneut vor meinem Gruppenleiter, um eine Unterschrift zu erhalten. Kaum hatte er das Blatt angesehen, wollte er mich in die Arme schließen: "Los, Kollege, nur zu, druck es! In unserer Gruppe arbeitet niemand zum Thema Internationalismus".

Internationalismus?

Nun, der revolutionäre "Volksdichter" Lorca eignete sich offenbar hervorragend, um ein Kunstwerk unter dem Zeichen der "Völkerfreundschaft" zu legitimieren. Zum Glück musste ich also keinen Kompromiss eingehen. Das hätte ich auch nicht getan, wie ich es in der Kunst weder zuvor noch danach tat. Später entstand eine Serie von zehn Lithografien "Nach Motiven aus Gedichten von F. García Lorca".

War es auch ein Problem, dass Ihre Arbeit in der antisemitischen Kulturlandschaft der Sowjetunion immer wieder als "jüdisch" angesehen wurde?

Tatsächlich war in der Sowjetunion der Begriff "jüdische Grafik" gängig. Was genau man darunter verstehen sollte, wusste niemand. Klar war allerdings, dass es etwas Fremdartiges und "Unrussisches" war. So erzählte mir beispielshalber der Künstler Andrej Kostin, dass der künstlerische Leiter eines der wichtigsten Sowjetverlage seine Illustrationen abgelehnt habe, weil seine Graphik "allzu jüdisch" sei. Dabei war Kostin überhaupt kein Jude. Ich selbst erlebte immer wieder solche Vorfälle. In Moskau wurde ich einmal beauftragt, Dias für Kinder unter dem Titel "Alphabet auf dem Beet" zu zeichnen – zu jedem Buchstaben eine Pflanze mit einer eigenen Geschichte und großen Bildern. Nachdem ich die erste Bilderfolge erstellt hatte, wurde sie von der Redaktion umstandslos angenommen, es fehlte lediglich die Unterschrift der Chefredakteurin. Als ich ihr die Bilder brachte, betrachtete sie lange jedes Blatt Papier. Als sie bei H wie "Heidekorn" angekommen war, wo ich einen Schmetterling über einem blühenden Buchweizenfeld dargestellt hatte, keifte sie mich, ohne vom Blatt aufzublicken, an: "Sogar der Schmetterling ist bei Ihnen irgendwie … unrussisch!"

"Unrussisch" bedeutete in dem Kontext…?

Jüdisch. Ich habe das Studio danach nie wieder betreten. Die Dias, die ich schon gezeichnet hatte, erschienen zwar, aber so wurde das russische Alphabet nur zur Hälfte aufs Beet verpflanzt.

Lässt sich die heutige Zensur in Russland mit der sowjetischen vergleichen?

Was den Unterschied zwischen der alten und der neuen Zensur angeht... Entweder gibt es eine Zensur oder nicht. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Sie sagten: In der Sowjetunion wusste jeder genau, was in der Kunst erlaubt ist und was nicht. Damals war nur der – von Ihnen vehement abgelehnte – soziale Realismus offiziell anerkannt; Abstraktion galt als verwerflich. Heute ist die Abstraktion sehr populär geworden, aber auch nett und leise, sie hat womöglich ihre Widerstandskraft verloren. Wie sehen Sie Gegenwart und Zukunft der abstrakten Kunst?

Die Abstraktion ist nur von vielen künstlerischen Arten, die Welt zu sehen und darzustellen. Einmal entstanden, wird sie nie wieder verschwinden. Was Widerstand war oder zu sein schien, ist zu einem "rechtmäßigen" Anspruch auf eine Vielfalt der Realitätsbetrachtung geworden. Oder vielleicht zu einem rechtmäßigen Anspruch auf die Darstellung einer anderen Wirklichkeit.

Nach und nach erlangte Ihr Werk auch im spät- und postsowjetischen Russland breite Bekanntheit. Bis vor einigen Jahren haben Sie immer wieder Zeit in Moskau verbracht, Sie hatten dort ein grosses Publikum und Ausstellungen, mehr als 100 Ihrer Werke befinden sich in den Sammlungen dortiger Museen, darunter auch in der Tretjakow-Galerie.

Diese Werke sind heute von der neuen Zensur und sogar von Säuberungsaktionen bedroht. Freie Kunst wird wieder als "dekadent", "westlich" und "antirussisch" diffamiert. Die Geschichte wiederholt sich. Vor Kurzem wurde aus Gründen der politischen Kontrolle auch die Leitung der Tretjakow-Galerie ausgetauscht.

Jetzt werden Sie wohl nicht mehr nach Moskau reisen wollen, es sei denn, die politische Situation würde sich radikal wandeln. Sie könnten es vermutlich auch gar nicht, weil Sie und auch Ihr Sohn Alexander Estis sich schon mehrfach gegen das Regime und den Angriffskrieg auf die Ukraine ausgesprochen haben. Was wird nun aus Ihren Werken, aus Ihrem kulturellen Erbe?

Um ehrlich zu sein: Ich sehe keinerlei Lösung für dieses Problem.

Ist die russische Kultur mit Schuld an dem, was jetzt geschieht?

Es fällt mir schwer, über die russische Kultur als Ganzes zu urteilen. Aber ich bekomme immer ein ungutes, schmerzhaftes Gefühl, wenn sogar in den besten Werken der klassischen russischen Literatur das "Russentum" hervorgehoben wird. Im Allgemeinen denke ich aber, dass es nicht primär um die russische Kultur als solche geht. Sondern darum, dass ihre außerideologischen Prinzipien keine Verankerung in den Köpfen der Menschen gefunden haben.

Die ukrainische Kunst ist im Westen endlich bekannter und beliebter geworden. Die ukrainischen Künstlerinnen und Künstler leben jeden Tag in Gefahr, aber ohne Zensur. Was würden Sie ihnen wünschen?

Ich wünsche allen Bürgern der Ukraine, dass sie überleben. Das ist jetzt die Hauptsache.

Sie selbst sind im Jahr 1996 aus Moskau nach Deutschland ausgewandert. Heute gibt es eine neue Einwanderungswelle. Auch viele Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller, Musiker kommen im Zuge des russischen Angriffskrieges zu uns – sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland. Was können Sie den neuankommenden Flüchtlingen aus den schöpferischen Berufen raten? Wie schafft man es, als Künstlerin oder Künstler im Untergrund oder im Exil zu arbeiten und die Hoffnung nicht zu verlieren?

Ein Mensch trägt, wenn er emigriert, sozusagen sich selbst mit als Gepäck, gefüllt mit all seinen Gewohnheiten, Einstellungen, Ambitionen, Talenten. Den Künstlern, wie auch allen anderen Kulturtätigen, wünsche ich, dass sie sich in allen Lebenssituationen ihre Eigenheit, ihre Individualität und ihre geistige Freiheit erhalten, unabhängig von politischen, geographischen oder anderen Bezugspunkten. Ich für mein Teil habe nie einer Gruppe, einer Bewegung oder einer Strömung angehört, nie das Kollektive in der Kunst nachempfinden können, nie die Arbeit von Künstlern nach ihrer Zugehörigkeit zu Schulen, Stilen oder Tendenzen beurteilt. Insofern sind Fragen nach der Emigration oder dem Untergrund in der Kunst für mich nicht ganz verständlich. Denn der Künstler ist eigentlich immer in der Emigration, immer im Untergrund, eingetaucht in sich selbst. Dies bleibt er auch angesichts von Repression, von Exil, materiellen Bedrängnissen oder meinetwegen Wetterbedingungen. Man muss sich einfach auf sich selbst verlassen und mit größter Geduld weiterarbeiten.

Am Anfang unseres Gesprächs haben Sie geschildert, wie Sie im Kindesalter die Bombardierung erlebt und als einschneidendes Farbereignis im Gedächtnis behalten haben. Heute, 80 Jahre später, malen Sie mit geflüchteten ukrainischen Kindern.

Diese Kunstkurse in Pinneberg wurden erst kürzlich vom ortsansässigen Diakonischen Werk initiiert. Die Kinder werden von Anzhelika Stepanenko betreut, einer erfahrenen Pädagogin, die – wie die Kinder selbst – aus der Ukraine geflohen ist. Ich wurde gefragt, ob ich die Kinder beim Malen unterstützen könnte. Inzwischen hatten wir schon mehrere Malstunden. Ich schaue diese Kinder an, Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters, die sich aus diesem grauenvollen Krieg gerettet haben. Einige kamen aus Kiew. Natürlich fühle ich mich an Kiewer Erlebnisse erinnert – welche schweren Eindrücke mögen nun diese Kinder mit sich herumtragen, welche Spuren davon werden in ihren Bildern hervortreten?

Haben Sie schon einige Antworten?

Diese Kinder sehen sich mit einer unerträglichen und völlig unerwarteten Wendung des Lebens konfrontiert, sie blicken in eine ungewisse Zukunft. Sie sind durch den Krieg früh erwachsen geworden, doch mit dem Pinsel in der Hand fühlen sie sich frei. Ich merke, wie sehr sie malen wollen. Denn Kunst heilt, Kunst stillt den Schmerz, verleiht Hoffnung – und bietet eine Heimat.