Nicola Trezzi, wie wurde die Debatte um die Documenta Fifteen in der israelischen Kunstszene wahrgenommen?
Es gibt natürlich viele Ebenen, von spontanen Diskussionen unter Kuratoren bis zu den Debatten in den sozialen Medien. Die Leute fragen nach dem Einfluss der Boykottbewegung BDS, danach, warum dort keine israelischen Künstlerinnen und Künstler auf der offiziellen Einladungsliste standen. Aber vielleicht ist die wichtigste Frage noch nicht gestellt worden: Wie ist die Documenta als Institution an diesen Punkt gekommen? Wie hat die künstlerische Leitung gearbeitet, wie ist ihr Verhältnis zur Institution und ihren Gesellschaftern, welchen Auftrag hatte sie? Es werden zwei Debatten vermischt, die man trennen soll. In Deutschland ist die Debatte um Antisemitismus sehr aufgeheizt, aber man sollte zuerst auf die Strukturen der Ausstellung schauen. Was bedeutet es, wenn eine künstlerische Leitung eine Situation schafft, in der Dinge aus dem Ruder laufen? In so einer Situation hätte es jede Art von problematischem Inhalt geben können.
Ist es generell ein Problem, wenn man als Kurator zu viel Verantwortung an die Künstlerinnen und Künstler abgibt?
Es ist durchaus möglich, eine offene Struktur zu haben, und trotzdem die Kontrolle darüber zu behalten, was in der Ausstellung passiert. Meiner Ansicht war das größte Problem noch nicht einmal, dass es bei Taring Pardi diese problematische Figur auf "People’s Justice" gab, sondern dass Ruangrupa gemeinsam daran scheiterte, sie als solche zu erkennen. Dann zu zensieren und zu entfernen kreiert allerdings auch viele Probleme, wie bei einem Bumerang. Denn dann erzeugt man erst den Eindruck, dass es wirklich ein antisemitisches Statement gab – was meiner Meinung nach nicht der Fall war. Um daraus zu lernen, sollten die Experten vor allem darüber diskutieren, was es bedeutet, wenn man eine so große Ausstellung verantwortet. Denn eigentlich ist es absolut zeitgemäß, eine Ausstellung von einer Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern kuratieren zu lassen.
Von Anfang an wurden bei der Documenta Fifteen Fragen des Ausschlusses diskutiert, von manchen wurde die Abwesenheit von jüdischen Künstlerinnen und Künstlern mit israelischem Pass als eine Art Boykott interpretiert.
Damit tut man israelischen Künstlerinnen und Künstlern keinen Gefallen. Mit Quoten ist es immer ein Problem: Wie viele Männer, wie viele Frauen, wie viele aus Europa … Wir können zählen, aber das funktioniert nicht, schon gar nicht bei einer Ausstellung wie der Documenta Fifteen. Es geht nicht um Quoten, sondern darum, wie man mit Kollektiven und Gruppen arbeitet, ihnen Freiheit gibt und trotzdem eine Ausstellung entwickelt, hinter der man stehen kann. Vielleicht ist das in der Größe gar nicht möglich. Vielleicht eignen sich diese Grassroot-Positionen nicht für eine "Monsterausstellung" wie die Documenta. Kann eine Ausstellung in Europa, mit so einer Größe und so einer Finanzierung, gleichzeitig ein Community Space sein? Braucht die Community nicht einen geschützten Raum – der zum Beispiel nicht auf diese Weise von Politikern beäugt wird? Bei der Documenta Fifteen könnte am Ende der Versuch, mehr Freiheit zu erlangen, in einer Beschneidung genau dieser Freiheit enden.
Die Debatte begann mit den Vorwürfen an die Gruppe Question of Funding mit Sitz in Ramallah. Kannten Sie die Gruppe?
Nicht wirklich. Es ist nicht möglich für uns, Künstlerinnen und Künstler aus der West Bank zu Ausstellungen einzuladen. Auch Künstlerinnen und Künstler, die in Israel leben und israelische Pässe haben, aber sich als Palästinenser identifizieren, möchten für gewöhnlich nicht in israelischen Institutionen ausstellen. Es ist nicht einfach, einen Austausch zu haben.
Umso wichtiger wäre dieser Ausstausch anderswo?
Generell sollten Künstlerinnen und Künstler unabhängig von den politischen Mächten in ihren Herkunftsländern miteinander reden. Und sie sollten zu Ausstellungen eingeladen werden, weil ein Kurator ihr Werk interessant fand, nicht weil irgendjemand gerne Friedensgespräche hätte. In der Ausstellung, die ich für das CCA organisiert habe, gab es zur Eröffnung ein Roundtable mit Mitgliedern von Rafani aus Prag, Cooltūristės aus Vilnius und Chto Delat (What is to be done?) aus St. Petersburg. Angesichts der jüngsten Ereignisse haben sie sich sehr intensiv unterhalten. Für solche Gespräche muss man Raum schaffen.
In Deutschland gibt es Forderungen, Künstlerinnen und Künstler, die den BDS unterstützen, von Ausstellungen auszuschließen.
Wenn man einen Künstler zu einer Ausstellung einlädt, fragt man ja auch nicht, welche Partei er wählt. Man sieht ein Werk, man wählt es aus. Sonst braucht man Fragebogen wie beim Marketing: Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, politische Präferenzen, Religion, bitte ankreuzen!
Das Thema ihrer letzten Ausstellung "Not in My Name" war das Arbeiten in Gruppen. Warum sind Kollektive zurzeit so interessant?
Mein Ausgangspunkt war das Werk von Claire Fontaine und von Slavs and Tatars. Ich nutze nicht unbedingt das Wort Kollektiv, das eine spezielle Geschichte hat, sondern es geht um Künstlerinnen und Künstler, die nicht alleine arbeiten und nicht unter ihrem eigenen Namen. Ich wollte einen Diskurs über "artist/s" beginnen, die neu definieren, was es bedeutet, zusammen zu arbeiten. Sie verweigern die seit Giorgio Vasari geltende Annahme, dass das Kunstwerk die Individualität eines Künstlers widerspiegelt. Künstlerinnen und Künstler aus Buenos Aires, Rio de Janeiro, Mexico City, Havanna, Yang Jan in China, New Delhi, Bandung in Indonesien, Kopenhagen, Budapest und vielen anderen Städten sind dabei.
Gibt es auch Verbindungen zur Geschichte des israelischen Kibbuz?
Paradoxerweise gibt es in Israel nicht so viele Kollektive, trotz der großen Geschichte der sozialistischen Kibbuze. Ihre Präsenz in der Ausstellung beschränkt sich auf die Gruppe Public Movement aus Tel Aviv. Das Zusammensein hat in diesem Land eine Geschichte. Aber die Art von Zusammensein, um die es heute geht, passiert unter der Oberfläche, als eine selbst organisierte Antwort auf die Hyperindividualisierung, die wir alle performen müssen. Die Kunstwerke regen Fragen zu diesen Themen an, sie versuchen nicht, einen Ausstellungsraum in ein Community Center zu verwandeln. Im Kibbuz war das Zusammensein Ideologie, hier ist es die individuelle Wahl.