Fotograf Michael Danner über Ukraine-Krieg

"Alle Bilder haben ihre Berechtigung"

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Michael Danner beschäftigt sich seit Jahren mit Flucht und Migration, jetzt fotografiert er die Folgen des Angriffs auf die Ukraine. Ein Gespräch über Bilder im Krieg und unterschiedliche Darstellungen von Geflüchteten


Michael Danner, als der russische Angriff auf die Ukraine begann, haben Sie sofort angefangen zu fotografieren. Seitdem teilen Sie auf Ihrem Instagram-Account sozusagen in Echtzeit Bilder von Geflüchteten an der polnisch-ukrainischen Grenze und Solidaritäts-Demonstrationen für die Ukraine in Berlin. War das ein künstlerischer Reflex?

Es ist ein Versuch, eine Sprache zu finden und zu verstehen, was da passiert. Instagram ist nicht mein Hauptmedium, sondern eher ein Ort für Experimente. Man kuratiert diesen Raum, und ich finde es spannend, da für mich visuell eine Haltung zu finden und diese natürlich auch zu teilen. Die Intention, an die Grenze zur Ukraine nach Polen zu reisen, war eigentlich Teil von einem längerfristigen Projekt.

Von welchem?

Der Arbeitstitel ist "The Sleep Of Reason Produces Monsters" – und eigentlich war es schon abgeschlossen. Der Ansatz war, dass die westlich-liberalen Demokratien früher eher von außen bedroht waren und in der Zwischenzeit eher von innen, also durch Populismus, durch autoritäre Tendenzen, durch das Infragestellen von Meinungs- oder Pressefreiheit und das Aushöhlen von Gewaltenteilung. Man muss ja nur nach Polen oder Ungarn schauen – oder nach Großbritannien, wegen des Brexits. Oder denken wir an Trump in den USA. Die Idee war, zu fragen: Was konstituiert Demokratie? Ich wollte zeigen, dass sie nur besteht, wenn man sie jeden Tag lebt. Und der zweite Teil der Arbeit sind Porträts von politischen Aktivisten, auch in Polen und der Ukraine. Ein Grund, warum das Putin-Regime diesen Angriff gestartet hat, ist ja die Angst vor diesem demokratischen Nachbarn.

Wurde das Projekt von der Realität eingeholt? Nun wurde ein souveränes Land in Europa von einem anderen auf brutalste Art angegriffen.

Vielleicht stimmt das insofern, als dass wir das Gefühl hatten, dass es so, wie es die letzten 70 Jahre lief, schon weitergehen würde. Wir konnten uns nicht wirklich vorstellen, dass es einen Krieg in so einem Ausmaß in Europa noch einmal geben wird. Es stellt viele Sicherheiten in Frage, zuerst die Pandemie und nun der Krieg. Aber es passt auch zu den Gedanken zu gelebter Demokratie. Denn wo Menschen fliehen und ankommen und Leute sie in Empfang nehmen und ihnen helfen, wird Zivilgesellschaft sichtbar.

Welche Motive interessieren Sie? Von den Schrecken des Krieges sieht man ja nichts.

Nein, und ich würde auch keine Kriegsfotografie machen wollen. Das überlasse ich anderen, die das viel besser können. Mir ging es einmal um die Unmittelbarkeit der Ereignisse an der Grenze. Diese Bilder sind sozusagen Zeitdokumente. Über das Fotografieren kommt man mit Menschen ins Gespräch. Man sieht, man fühlt, was da passiert. Und die Präsenz der polnischen Zivilgesellschaft hat mich sehr beeindruckt. Ich war eine Woche vor Ort, und da war nicht unbedingt die öffentliche Hand sichtbar, also Militär oder irgendwelche Organisationen, sondern das war wirklich die Bevölkerung, die da unglaublich professionell agiert hat. Das ist die eine Gruppe an Bildern, die die Flucht und Vertreibung zeigen.

Und die andere?

Die anderen Bilder stellen die Frage: Wo findet der Konflikt statt? Und der findet natürlich vor allem in der Ukraine statt, dort leiden die Menschen, aber er findet auch in den Medien und in der Propaganda statt. Und er ist auch hier sichtbar: durch die Menschen, die am Bahnhof ankommen, Menschen, die sich hier engagieren, und natürlich auf der Straße in Form von Demonstrationen, von Solidarität mit der Ukraine über Protest.

Sie suchen also die sichtbaren Zeichen des Krieges außerhalb der Kriegsschauplätze?

Ja, es sind die Erscheinungsformen dieses Konflikts, die sich an anderen Orten manifestieren. Wie wir darauf reagieren, als "die Politik", vielleicht auch die deutsche Gesellschaft insgesamt oder Europa oder "der Westen". Das geht bis zu Protesten, die pro-Putin sind. Diese Auseinandersetzungen, diese gelebte Demokratie, wo über den richtigen Weg gerungen wird, ist auf der Straße sichtbar. Und das interessiert mich als Fotograf.

Gerade sind wir überall von Bildern des Krieges und seiner Folgen umgeben. Würden Sie sagen, dass sich Ihre Fotos von Nachrichtenbildern unterscheiden?

Ich glaube, als Künstler kann man einen Schritt zurücktreten. Ein nachrichtliches Bild muss etwas auf den Punkt bringen. In der künstlerischen Arbeit oder in einem Langzeitprojekt kann man eher Zwischentöne zeigen und von einer anderen Perspektive auf die Ereignisse blicken. Und man kann mit historischem und gefundenem Material eine komplexere Erzählung oder einen Denkraum schaffen und sein eigenen Handeln und seine Sichtweisen infrage stellen. Das versuche ich auf dem Instagram-Account, wo ich immer wieder historische Bilder vom Krieg einstreue.

Es haben schon manche Kulturschaffende gesagt, dass ihnen ihre Arbeit angesichts einer solchen Katastrophe sinnlos erscheint. Kam Ihnen der Gedanke auch schon, dass Fotografie jetzt nichts ausrichten kann?

Ein ukrainischer Fotograf, dem ich folge, hat etwas sehr Interessantes gepostet. Er ist in Kiew und bleibt dort auch. Er hat drei Punkte formuliert, die ein Fotograf im Krieg machen muss: zuerst Müttern und Kindern helfen, dann seine Kamera und die Negative retten und dann erst sich selbst. Er hat erzählt, dass seine Tochter einen Dokumentarfilm macht, mit dem sie sich an der Kunstakademie bewerben will. Also natürlich ist Fotografie nicht das Wichtigste in so einer Situation, aber sie hat ihren Zweck und ihre Berechtigung. Ich finde wichtig, dass es Momente des Innehaltens gibt und man sein Tun reflektiert. Aber als politischer Mensch ist es mir ein Bedürfnis, mich auch mit dem Komplexen und dem Widersprüchlichen auseinanderzusetzen. Ich glaube, dass ein künstlerischer Ausdruck auch einen Raum einnimmt oder einen Raum gibt, der zum Beispiel dann nicht von Propaganda besetzt werden kann.

Sie fotografieren seit Jahren zum Thema Migration und haben viele Menschen auf der Flucht getroffen. Wie reagieren Menschen, wenn sie in einer solchen Ausnahmesituation porträtiert werden sollen? Und haben Sie manchmal Bedenken, dass Sie voyeuristisch sind?

Die meisten sind sehr offen, weil sie das Gefühl haben, gesehen zu werden. Aber natürlich muss man vorsichtig sein, weil die Menschen in einer verletzlichen Situation sind. Man sollte als Fotograf das Gefühl vermitteln, dass die Menschen eine Art von Kontrolle haben. Andererseits öffnet die Kamera viele Türen für Begegnungen. Ich hatte manchmal schon moralische Bedenken, ob diese Bilder nötig sind, aber ich glaube, dass es sie geben muss. Es muss auch die Bilder geben, auf denen die Toten auf der Straße liegen. Es ist eine Frage von Kontext, wie man mit den Bildern umgeht, wo sie gezeigt werden, welche Bildunterschriften, welche Überschriften die dann haben, oder ob man Gesichter zeigt. Es gibt viele Fragen, die sich stellen. Aber ich glaube, es muss alle Bilder geben.

Noch Anfang des Jahres hat man Fotos von Geflüchteten gesehen, die in Belarus an der Grenze zu Polen unter erbärmlichen Bedingungen ausgeharrt haben. Die haben uns offenbar nicht so aufgewühlt und eine Solidaritätswelle ausgelöst wie die Bilder der Ukrainerinnen und Ukrainer. Wie erklären Sie sich das?

Die Idee meines Migrations-Projektes ist, zu sagen: Migration gehört zum Menschsein dazu. Im Kleinen gehen wir in eine größere Stadt zum Studieren, oder um eine bessere Arbeit finden. Die Menschen gehen dahin, wo sie eine Chance auf ein besseres Leben haben. Und wenn man sich für das Thema interessiert und sensibilisiert ist, geht es nie zu Ende. Dann merkt man, dass es zur Migration dazugehört, dass die Menschen, die irgendwo ankommen, nie willkommen sind. Wenn es mehr Menschen sind, dann gibt es eigentlich immer irgendwelche Gegenreaktionen und Ängste, die oft populistisch ausgenutzt werden. Aber was da an der Grenze Belarus-Polen passiert ist, oder die inzwischen dokumentierten Pushbacks zwischen Griechenland und der Türkei, oder dass immer noch Menschen im Mittelmeer ertrinken, das ist schwer zu ertragen.

Unter anderem hat der nigerianische Autor und Menschenrechtsanwalt Ayo Sogunro kommentiert, wie anders überwiegend weiße Menschen aus "unserem Kulturkreis" im Vergleich zu Geflüchteten aus Syrien, Afghanistan oder afrikanischen Ländern behandelt und dargestellt werden. Er sagt, dass Europa seit 2015 keine Flüchtlings-Krise, sondern eine Rassismus-Krise hatte. Stimmen Sie zu?

Bei Migration spielt ganz bestimmt immer Rassismus mit. Natürlich kann man sagen, dass sich Deutschland und Ukraine kulturell nahe sind, aber am Ende sind wir alle Menschen. Auch 2015 gab es ein paar Wochen der riesigen Solidarität, aber es kippte dann sehr schnell. Jetzt sind wir noch ganz am Anfang, wir werden sehen, wie es sich entwickelt.

Interessant ist auch, dass sprachliche Bilder wie "Flüchtlingswelle" oder "Flut“ im Moment nicht verwendet werden.

Das stimmt, das war 2015 sehr auffällig. Da wurde suggeriert, dass man überrannt wird, dass das eine Naturgewalt ist. Es gab auch den Begriff der Migrationskrise. Die Frage ist: Was für eine Krise? Ein Staatsversagen? Vielleicht, dass man nicht schnell genug Zelte aufbaut oder Unterkünfte schafft? Oder wer ist das Problem? Die Menschen, die um ihr Leben fürchten und deswegen fliehen müssen? Oder ist es vielleicht einfach schlecht organisiert? So etwas muss man genau beobachten. Das ist auch ein Grund, warum ich das Langzeitprojekt zu Migration mache. Wir alle haben die Nachrichtenbilder von Menschenmassen gesehen. Vielleicht braucht es andere Bilder, die Vorurteile unterwandern und auch deutlich machen, dass wir in der Geschichte alle mit Migration zu tun hatten. Und wie gesagt, bei den Menschen aus der Ukraine sind wir noch am Anfang, es ist schwer zu prognostizieren, was passieren wird, wenn sich der Krieg lange hinzieht.

Ihr Projekt haben Sie unter dem Namen "Migration as Avant-Garde" gezeigt. Ist das angesichts der humanitären Katastrophen, die oft dahinterstehen, nicht ein zynischer Begriff?

Avantgarde kommt eigentlich aus dem Militär. Es bezeichnet die Vorhut, die vorangeht. Und ich finde, es passt. Der Titel ist natürlich eine Irritation, von der ich hoffe, dass sie neugierig macht. Migranten gehen neue und andere Wege, und diese Idee eröffnet wiederum die Möglichkeit, historische Brücken zu schlagen. In Ihrem Essay "Wir Flüchtlinge" zieht Hannah Arendt diese Verbindung von Geflüchteten zur Avantgarde.

Heute haben die meisten Menschen auf ihrer Flucht Smartphones dabei und können auch selbst fotografieren und ihre Erfahrungen und Eindrücke teilen. Verändert das unseren Blick auf Migration?

Bilder beeinflussen immer, wie wir die Welt sehen. Es macht sehr deutlich, wie schnell man in eine solche Situation geraten kann. Ich bin mit einigen Menschen aus der Ukraine, die ich fotografiert habe, über Instagram in Kontakt. Da sieht man dann Accounts, die die ganze Zeit nur Sonne, Strand und Urlaubsfotos beinhaltet haben – also Accounts, wie es sie millionenfach gibt. Und dann kippt es plötzlich und zeigt Situationen der Flucht. Das ist sehr beeindruckend, weil man es nachvollziehen kann. Aber natürlich hängt es davon ab, welche Aufmerksamkeit solche Bilddokumente zu welcher Zeit bekommen. Es gibt diese Bilder auch von der Balkanroute oder aus dem Flüchtlingslager Moria. Was sich im Vergleich zu früheren Kriegen und Konflikten verändert hat, ist, dass es nicht mehr das eine Bild gibt, das sich im kollektiven Gedächtnis verankert. Ich finde es grundsätzlich gut, dass es so viele Bilder gibt. Aber gleichzeitig hat das Einzelbild nicht mehr eine so starke Wirkung.