Via Lewandowsky, ganz naiv gefragt: Gibt es eigentlich so etwas wie Ostkunst?
Es gibt sie und es gibt sie nicht. Es gibt immer alles und alles gibt es nicht immer. Wobei einerseits die Protagonisten langsam aussterben und andererseits die Vertreter dieser Kunst nicht immer unbedingt aus dem Osten kommen müssen. Die Leipziger Schule ist so ein Beispiel, das Künstlern aus aller Welt erlaubte, sich dieses spezielle Label zuzulegen. Heute in der Gegenwartskunst ist das, was Ostkunst einmal stilistisch ausgemacht hat, in den globalen Markt eingegangen und nicht mehr von Biografien und Identitäten abhängig. Dazu kommt noch, dass es keine einheitliche Ostkunst gab. Es wäre daher noch zu klären, welche Kulturschaffenden gemeint sind: die aus der offiziellen oder der nicht offiziellen Szene. Sind die Akteure der alternativen, subversiven Kunstszene gemeint, sind es die Dissidenten, die später Karriere im Westen gemacht haben oder jene, die die staatstragende Gesinnung für die Partei unter das Volk gebracht haben? Abgesehen von dem Heer affirmativer und angepasster Positionen, die sich bei einigen Themen im Westen wie im Osten kaum unterschieden haben. Der sozialistische Realismus und die damit verbundene beschönigende Heuchelei im Osten hatte ja auch einen ideologischen Counterpart in der gegenstandslosen Kunst im Westen, deren Gegner wiederum sich gern mit den sozialistischen Realisten im Osten solidarisierten. Der Begriff Ostkunst ist eine recht unspezifische Kategorie und beinhaltet offensichtlich auch sich widersprechende Positionen.
Ich stelle die Frage nicht, um Sie, um euch zu kategorisieren, sondern, um etwas zu erfahren. Mich interessiert diese gefühlte kulturelle Differenz schon, seit ich den 1990ern mit meiner Band durch die "neuen Länder" getourt bin. Alleine die Frequenz an Naziattacken auch auf die Punk- und Hip-Hop-Szenen damals und die fehlende Zivilgesellschaft, die die Bunthaarigen geschützt oder zumindest verstanden hätte. Aber niemand wollte mit mir richtig darüber sprechen. Ein Künstler, den ich zu dieser Gesprächsreihe eingeladen hatte, schrieb, das sei doch eine blöde Frage, jetzt immer noch, nach 35 Jahren, dieses Osten-Westen. Sie haben aber in der Mail geschrieben: "Lieber Jan, ja, das gibt es."
Man muss es etwas spezifizieren. Generell haben 40 Jahre kulturelle Indoktrination und das Umgraben einer ganzen Kulturlandschaft durch die Besatzungsmacht der Sowjets keinen Stein auf dem anderen gelassen. Das geht in tiefenpsychologische Regionen. Das macht was mit den Menschen. Das wird gerade in den Reihen der heute Enttäuschten, also der damaligen Mitläufer, der vormals Privilegierten, bis heute weitergegeben als ob es endogenetisch eingeschrieben wäre. Ohne das als Rechtfertigung benutzen zu wollen, aber Millionen Menschen wurde unfassbar viel Gewalt angetan, sie wurden abgerichtet, wie Zirkustiere dressiert. Dann kam unvermittelt der verheißungsvolle Westen mit einer Wucht über sie, die sie, nachdem sie sich vom K.o.-Schlag der Freiheit erholt hatten, benommen und wütend ihre Identität wieder einsammelnd zurückließ. Die sogenannte Diktaturerfahrung, die Bewältigung des neuen Lebens sind ein Erfahrungshorizont, der sich wesentlich von den westdeutschen Erfahrungen nach 1989 unterscheidet. Andererseits, wenn man schon von Diktaturschaden redet, sollten wir nicht übersehen, dass für den größten Teil der Bevölkerung das eigentliche Trauma auch deshalb nach dem Mauerfall begann, weil die Mehrheit es sich in der Diktatur gemütlich gemacht hatte. Es war eine Zeit relativer Stabilität, die sich kaum mit den dramatischen, schnellen Veränderungen durch Globalisierung, Digitalisierung und politischen Konflikten nach dem Ende des Kalten Krieges vergleichen lässt. Das ewige Zurückschauen allerdings und das miesepetrige Kleinreden des Erreichten sowie die vorwurfsvolle Suche nach einem Schuldigen für welches Übel auch immer findet man in dieser ausgeprägten Form flächendeckend fast nur im Osten. Das ist auch ein entscheidender Unterschied zum Westen, der in vielen Bereichen auch massive Veränderungen erfahren musste.
Else Gabriel, Micha Brendel, Reiner Götz und Sie haben in Dresden die Auto-Perforationsartisten gebildet. Man stolpert immer wieder über diesen Namen. Für Thomas Scheibitz, der ein paar Jahre jünger als Sie ist, waren Sie großen Helden, weil Sie die offizielle Kunst in der DDR unterlaufen haben. Mit welchem Anspruch sind Sie damals angetreten? Und haben Sie das System mehr oder weniger bewusst hinterfragt?
Als Studierende der Abteilung Bühnenbild waren wir relativ frei, weil es keine Anbindung an irgendeine künstlerische Szene gab. Wir waren eine Gruppe gleichgesinnter Ahnungsloser, die sich zusammengefunden und gesagt haben, wir machen neben dem Studium oder überhaupt als das Studium unsere eigenen Sachen. Am Anfang schien es, als müssten wir uns gegenseitig beweisen, wie wenig Interesse wir an dem eigentlichen Studium hatten. Wir konnten den sonst sehr regulierten Lehrbetrieb auch deshalb so gut unterlaufen, weil sich keiner für uns interessierte oder man uns nicht ernst nahm. Unser Studiengang des Bühnenbildes an der Kunsthochschule in Dresden wurde als Nebensache behandelt. Im Fokus standen eher die Maler und Bildhauer, die uns wiederum für unsere Freiheiten beneideten. Der Studiengang selber dümpelte führungslos durch die Semester, da der Abteilungsleiter gern im westlichen Ausland Bühnenbilder machte.
Ich dachte klischeehaft, es hätte einen ganz strengen Frontalunterricht gegeben und man musste erst mal drei Jahre in die Zeichenklasse oder malen.
Das erste Jahr begann bei Günther Hornig, der bekanntermaßen nicht für DDR-Realismus und traditionelles Handwerk stand. Das Grundstudium unterschied sich wesentlich von den anderen Klassen, wo Aktzeichnen und das Erlernen klassischer Fähigkeiten das alles Bestimmende war. Gemeinsamen Unterricht gab es nur in Anatomie, Architektur, Typografie und den kunsttheoretischen Fächern. Daraus ergaben sich Freiheiten, die wir auch zu nutzen wussten.
Waren Sie zu jung, um die Gefahr zu riechen? Oder hatte sich in den 80ern tatsächlich schon was geändert?
Wir dachten einerseits, die Reaktionen fallen schwach aus, was soll schon passieren. Und wir hatten gelernt, mit entsprechenden Deckmäntelchen die Sachen so zu kaschieren und sie so subkutan anzulegen, dass sie letztlich nicht so leicht als politisch unkorrekt zu enttarnen waren. Andererseits waren die 1980er-Jahre sicherlich nicht mehr die stalinistische Hochzeit, die sich durch drakonische Straf- und Erziehungsmaßnahmen gegen Abweichler auszeichnete. Die Ambivalenz zwischen Ideologie und Praxis in den nicht systemrelevanten Bereichen hatte ein Maß an Bigotterie erreicht, die der absurden Welt der DDR immer neue, kuriose Blüten wachsen ließen. Überraschend kam später heraus - anders als man über die Stasi zu wissen glaubte -, dass es eben doch ein sehr intensives Aufzeichnen und Beobachten unserer Aktivitäten durch die inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi gegeben hat.
Es gab Akten, in denen die Beobachtungen über Sie, die Gruppe und ihre Ausstellungen und Performances festgehalten wurden. Was stand da drin?
Das mag merkwürdig klingen, aber ich habe mich selber gar nicht so für dieses Thema interessiert. Ich werde zwar immer wieder angehalten, einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen. Aber ich will es nicht wissen. Was ich weiß, reicht. Vor vielen Jahren musste ich einige Teile lesen, weil andere sie für Studienzwecke angefragt hatten und meine Freigabe dafür benötigten. Dadurch steckte eines schönen Tages ein fetter Packen Stasi-Unterlagen in meinem Briefkasten. In dem Augenblick wurde mir bewusst, dass ich mich in den Augen des Staates schon mehr schuldig gemacht hatte, als ich es mir je hätte vorstellen können. Allerdings muss denen in den Zeiten des analogen Aufzeichnens doch hier und da etwas durch die Lappen gegangen sein. Im Wesentlichen handelte es sich um Texte von Beobachtungen unserer Performances im Stil von "die haben was ganz Komisches gemacht". Wenn man sich vorstellen würde, dass die Stasi die gegenwärtigen technischen Möglichkeiten gehabt hätte, dann wäre das doch noch anders ausgegangen. Die Unzulänglichkeiten auch an dieser Stelle des Systems haben immer wieder Dinge ermöglicht, die nie hätten stattfinden dürfen.
Es gab diese vitale Kunstszene, ich glaube vor allem in Dresden, Leipzig und in Ostberlin, die am offiziellen Kunstestablishment vorbeilief, also an der von oben dirigierten Kunst, die Aufträge bekommen hat, um zu produzieren. Heute sprechen wir von der freien Szene. Wie haben Sie sie damals genannt?
Die sich selbst organisierende, inoffizielle Kunstszene bestand aus Personen, die durch sehr verschiedene Themen im Austausch standen. Es gab nicht nur die im Ostblock beliebten Wohnungsausstellungen, die Herstellung von Künstlerbüchern in Kleinstauflagen, die Super-8-Film-Abende, die Lesungen, Konzerte oder Performances, sondern auch eine gewisse offiziellere Seite. In kommunalen Galerien oder auch halböffentlichen Räumen trafen Autodidakten und Dissidenten auf Künstler, die reguläre Mitglieder des Verbandes waren. Einen Namen hatte die alternative Kunstszene nicht, auch weil ihre oft wechselnden Protagonisten in ganz unterschiedlichen, offiziellen und nichtoffiziellen Kontexten auftraten. Es bildeten sich szeneartige Kreise um Galerien und spontan gegründeten, freundeskreisähnlichen Initiativen, um temporäre, kirchliche Räume. Oder die alternative Kunstszene drang über mit ihr sympathisierende Leiter von Veranstaltungshäusern in den offiziellen Kunstbetrieb ein. Der staatlich geregelte Kunstbetrieb konnte an jedem Ort unter immer anderen Vorwänden unterlaufen werden. Es brauchte nur eine Person oder eine Gruppe als Initiator. Für manche ging das für eine Weile gut, andere mussten über Nacht das Land verlassen. Die Zwänge, der Druck, der verinnerlichte Kampf gegen staatliche Orchestrierung waren für einige sogar Lebensinhalt, Arbeitsthema und Daseinsberechtigung als Künstler.
Sie selbst sind 1989, noch vor dem Fall der Mauer in den Westen gegangen.
Das gelang mir überraschend leicht. Schon damals wurden bestimmte Personen gern aus dem Land gelassen, weil man vielleicht glaubte, Ruhe vor potentiellen Unruhestiftern zu bekommen.
Auch Else Gabriel ist ja dann 1989 gegangen …
… nachdem sie Max Goldt geheiratet hat und damit einen Grund für ihren Antrag auf ständige Ausreise hatte. Die Familienzusammenführung wurde bewilligt.
Und dann wollte sie, glaube ich, auch wieder nicht raus, weil es gerade so spannend war.
Ihre Geschichte hat durch die plötzlichen Ereignisse im Herbst '89 einen anderen Verlauf genommen. Ich bin im April einer Einladung zu einer Ausstellung ins BASF-Feierabendhaus gefolgt, nachdem ich unverhofft einen Pass zum Besuch der Eröffnung bekam. Im Mai bin ich dann doch wieder zurückgekommen, um an der von Christoph Tannert initiierten "Permanenten Kunstkonferenz" teilzunehmen. Zwischenzeitlich hatte ich einen Pass zur Vorbereitung einer Ausstellung in Westberlin bekommen, der mir eine ständige Ein- und Ausreise ermöglichte. Im September reiste ich jedoch überstürzt ein letztes Mal aus, weil meine Familie, Frau und Tochter, in einer Tagesschau-Doku über ein Flüchtlingslager am Balaton in Ungarn auftauchte.
Lassen Sie uns bitte noch mal zurück nach Dresden, weil das so eine spannende Koinzidenz ist. Es gibt da seit Anfang oder Mitte der 80er diese freie Kunstszene, die um die Kunstuni herum ihr Unwesen treibt und gleichzeitig geht dann 1988, 1989 das los, was diese berühmten Montagsdemos geworden sind. Diese Bewegung kam ja nicht nur aus der Kunstszene, die kam aus der gesamten Zivilgesellschaft, aus den Kirchen. Sie haben das in einer Arbeit aufgenommen, in Leipzig steht "Die Glocke der Demokratie".
Die Demokratieglocke, oder auch das "Ei der Demokratie" genannt, war ein Wettbewerb der eine gestiftete Glocke der ostdeutschen Glockengießer künstlerisch in Szene setzen sollte. Für mich war klar, dass so eine Glocke nicht einfach nur als Glocke da stehen kann. Die Glocke musste zwar als Glocke funktionieren, sollte aber eine künstlerische Bearbeitung erfahren, die über das Bild einer Glocke hinaus geht. Dadurch ist die Idee der Glocke als Ei entstanden, das sich in mehrfacher Hinsicht als das richtige Bild für den Zustand der Demokratie im Osten entpuppte.
Weil es ein Symbol des Lebens ist?
Bei einem Ei kann man sich nie sicher sein, was rauskommt. An einem Ei lässt sich einiges erklären, auch gerade in Beziehung auf Demokratie. Schon die Fragilität bei absoluter Harmonie der Form stimmt in vielen Punkten mit der Betrachtung demokratischer Prozesse überein. Der eingebaute Glockenklöppel schlägt jede Stunde einmal, an einem zufälligen Zeitpunkt in der Stunde und zwar ein- bis zwölfmal.
Wie toll diese demokratische Revolution 1989 tatsächlich war! Ohne Blutvergießen ist da etwas Weltgeschichtliches passiert. Dafür gibt es eigentlich keine anderen Beispiele in der Geschichte. Wenn man sucht, fließt immer Blut. Als vor 15 Jahren der 20. Jahrestag der Montagsdemos begangen wurde, haben Sie eine Performance um die Demokratieglocke inszeniert. Und zwar mit Konfettikanonen?
Das war ein Beitrag zu einem Ausstellungsprojekt im öffentlichen Raum auf der Route der Montagsdemonstrationen, anlässlich des Jahrestages. Auf den Konfettischnipseln standen die Decknamen und die dazugehörigen Berufe von Stasi-Mitarbeitern des Bezirks Leipzig. Mir wurden unter strenger Einhaltung der Datenschutzauflagen etwa 12.000 Mitarbeiter der Stasi übergeben, die ein Schreibdienst im Stasi-Unterlagen-Archiv abgeschirmt von den vorlesenden Archivmitarbeitern aufgeschrieben hat. Der Klarname durfte natürlich dabei nicht mit ausgesprochen werden. Die kleinen Karten, für jeden Mitarbeiter eine, wurden dann per Konfettikanone über den Feiernden abgeschossen.
Was hat das mit den Feiernden gemacht? Welche Reaktionen gab es?
Na ja, als die Veranstaltung zu Ende war, lag kein einziger Schnipsel mehr auf der Straße, die wurden alle eingesammelt. Wer auch immer da Interesse hatte, dass da nichts liegen bleibt, hat das sehr gründlich gemacht.