Fotograf Jonas Lindström

"Jeder ist heutzutage Profi, keiner ist mehr naiver Amateur"

Der Fotograf und Filmemacher Jonas Lindström erschafft traumartige Bildwelten, die voller Gewalt, aber auch Schönheit sind. Hier spricht er über die Gleichzeitigkeit der Gegenwart, seine Arbeit mit großen Marken und Tipps für junge Künstler


Jonas Lindström, bei der Eröffnung Ihrer Ausstellung "To trust the world is a magical place" in Berlin haben die Leute zahlreiche Poster mitgenommen - darauf eine blaue Pille, mit dem Aufdruck "Believe". Warum die blaue und nicht die rote Pille?

Das ist eine gute Frage. Der Autor, der den Text zu meinem Buch geschrieben hat, hat natürlich auch sofort diese "Matrix"-Analogie aufgemacht. Das ist ein grandioser Film, die Referenz habe ich aber unbewusst eingearbeitet. Pillen sind aufgeladenen Objekte, jeder hat einen Bezug zu ihnen. Sie sind archetypische Symbole unserer Zeit, genau wie das "New York Times"-Cover oder die Zigarettenschachtel. In meinem Buch "Believe" habe ich mehrere Objekte einbezogen, die alternative Realitäten aufzeigen. Was wäre, wenn die "New York Times" morgen die letzte Ausgabe publizieren würde? Was wäre, wenn auf der Pille nicht "Xanax" stünde, sondern "Believe"? Das war die Denkweise dahinter. Es hat dieselbe Konnotation: Schluck' die Pille und "Believe". Das ganze Buch ist ein Testament des Glaubens, eine gewisse Art und Weise, die Realität zu sehen, die echten Erfahrungen und das echte Leben. Aber auch ein Kommentar auf unsere Welt und wie wir mit solchen Dingen umgehen. 

Im Vorwort von "Believe" und dem Ausstellungstext heißt es, "Maybe believe is more of a question, or a way of begging. Believe? Please." An was möchten Sie die Betrachterinnen und Betrachter Ihrer Bilder glauben lassen?

Für mich ist das Buch ein Manifest meiner Weltsicht geworden. In einer Welt, die sich immer mehr überschlägt, digitalisiert und dadurch weniger real wird. Es geht weniger um eine kulturpessimistische Kritik als um eine Alternative, mit einer anderen Idee und Hoffnung auf die Welt zu schauen. Dann spielt "Believe" damit, dass es zwar all diese Momente enthält, die die Welt für mich repräsentieren. Gleichzeitig ist aber das ganze Buch gestellt. Keiner dieser Momente existiert wirklich.

Stellen Sie sich die Frage, ob die Menschen überhaupt noch glauben?

Glaube ist ein stark aufgeladenes Wort, weil es direkt mit Religion zusammenhängt. Damit tue ich mich sehr schwer. Sobald Religion mit unserer Welt interagiert, wird es problematisch. Ich finde trotzdem, dass wir etwas brauchen und wollen, an das wir glauben. Für mich steckt dieses menschliche Bedürfnis in "Believe".

An Ihrer Arbeit sind die "geträumten" Bildwelten faszinierend. Obwohl real, sind diese stark inszeniert. Wie findet der Prozess der Ideenfindung statt - haben Sie die Bilder vorher bereits im Kopf?

Man muss Ideen klar ausformulieren, die Entstehung eines Bildes kann aber unterschiedlich sein. Es gibt eine große Liste an Ideen in meinem Kopf – hier habe ich etwas gesehen, dass mich interessiert, da einen Artikel gelesen oder dort eine Referenz entdeckt, die ich übersetzen möchte. Manchmal sind es gerade Dokumentarfotos, die mich inspirieren, weil ich mich frage, wie man es schaffen könnte, einen Moment nachzustellen, der so echt und zufällig ist. Damit schafft man sich aber lediglich einen Rahmen, in dem man frei genug bleiben möchte, dass ein wirklicher Moment passieren kann. Ich kann mir alles Mögliche ausdenken. Aber wenn die zehn Frauen am Strand rennen und dann die Sonne aufgeht, kann man das nicht planen. Pure Fotografie ist genau das, dieser Zufallsmoment.

Ihre Musikvideos und Werbefilme, zum Beispiel für Kendrick Lamar oder Calvin Klein, erreichen eine große Zahl an Menschen. Siehen Sie eine Verantwortung in den Bildern, die Sie kreieren? Und können Sie zu allem stehen, was Sie machen?

Ja, natürlich. Werbung ist Werbung. Wir retten mit dem, was wir machen, nicht die Welt. Wir machen etwas, das kein Mensch braucht. Aber es ist schön, und es macht Spaß. Worin ich eine Verantwortung sehe, ist in der Art und Weise, wie wir Menschen repräsentieren. Jeder Spielfilm oder jede Werbung ist ein Kulturgut, das von Menschen konsumiert wird und aufzeigt, wie die Welt aussehen kann. Die Charaktere, die Körperform, die Art des Zusammenseins, die verschiedensten Formen des menschlichen Daseins, die man darin zeigt, haben einen Effekt. Ich glaube, dass man da etwas in der Hand hat, um die Welt vielleicht ein Stück weit in die Richtung zu beeinflussen, die einem wichtig ist. Gerade in der Werbung, als größte Bühne der Welt.


Sie widmen sich oft brutalen Themen, schaffen aber gleichzeitig Kontraste mit einer feinfühligen, ästhetischen Bildsprache. Was möchten Sie damit auslösen?

Wenn Leute zu einem kommen und fragen "Was heißt das denn jetzt?", dann heißt es für jeden etwas anderes. Das ist ja das Spannende. Meine Arbeit funktioniert in vielen Fragmenten, die alle ganz unterschiedlich sind und zu einem mehr oder weniger kohärenten Bild oder einer Geschichte zusammenkommen. Diese zielen darauf ab, beim Gegenüber individuell etwas auszulösen. Mit dessen Bezugspunkten, dessen Weltsicht und dessen Referenzen. Da spielen wiederum Klischees und Stereotypen eine Rolle. Und zu unserem medialen Diskurs gehört heute nun mal auch die ganze Gewalt, die visuell überhand nimmt. Ein klassischer Tag auf dem Smartphone sieht doch so aus: Ich mache Online-Shopping, dann sehe ich wie jemandem in den Kopf geschossen wird, hier fällt ein Gebäude zusammen, dort gibt es Naturkatastrophen und dann mache ich auf Spotify den nächsten Song von Dua Lipa an. So fragmentiert ist unsere Welt. Bei meiner Arbeit war es immer so, dass es nicht die eine Lesart gibt. Aber für mich gibt es einen roten Faden.

Die Fotografien in Buch und Ausstellung folgen keinem linearen Narrativ. Sollen sie für sich stehen oder als Geschichte verstanden werden?

Ich sage nicht, dass man es nicht verstehen soll, aber ich erkläre nicht, wie es zu verstehen ist. Zu verstehen ist meine Arbeit schon, als Objekt macht sie Sinn. Es fiel mir allerdings wahnsinnig schwer, die Reihenfolge der Bilder im Buch zu ordnen. Es war klar, dass sie alle zusammengehören. Aber es war ein langer Prozess. Jedes Bild an sich ist schlüssig, auch die Bildideen selbst.

Wie lange haben Sie an dem Projekt gearbeitet?

Seit vier Jahren, mit ein bisschen Pause dazwischen. Bei der Zusammensetzung der finalen Serie hat dann mein Artdirector geholfen. Er hat in den Bildern andere Beziehungen und Geschichten entdeckt, die ich selbst gar nicht gesehen habe, und sie auf seine Weise verbunden.

Arbeiten Sie lieber solo oder im Team?

Die Fotos habe ich über lange Jahre mithilfe eines kleinen Teams selbst zusammengebastelt. Im Vergleich zu meinen sonstigen Arbeiten war das sehr spartanisch, back to basics. Oftmals habe ich nur recherchiert, zum Beispiel: Wo kann man Pferde finden, die im Kreis laufen können? Wir haben da einen Dressur-Reitverein in Niedersachsen gefunden, der das möglich machen konnte. Da sind wir an einem schönen Tag 500 Kilometer hingefahren, haben das Foto gemacht und sind wieder zurückgefahren. So entsteht ein Bild. Es fährt zwar jemand mit, aber ansonsten bin ich mit der Kamera allein. Für den Buch-Text wollte ich jemanden, der von außen kommt, der eine andere Sichtweise hat und weiß, wie man Bücher macht. Außerdem haben wir uns entschieden, nicht in die klassische Verlagswelt einzusteigen, sondern erstmal eine kleine Auflage selbst zu machen. Das Schöne, wenn man im Team arbeitet, ist, dass die Arbeit größer wird als man es allein jemals machen könnte. 

Sie haben ursprünglich mal eine Karriere als Modefotograf angestrebt, sind jetzt aber viel in Film, Musik und Werbung unterwegs. Wie kam es zu diesem Kurswechsel?

Ich war zu Anfang sehr naiv. Als Junge, der aus der Kleinstadt kommt und irgendwas mit Fotografie machen will, war es logisch, zu sagen: "Ich möchte etwas mit Menschen machen, keine Landschaften und Objekte fotografieren - wo kann man eigentlich am kreativsten sein?" Dann scheint Mode ein spannendes Feld, da wollte ich rein. Aber ich habe mich in der Modewelt nie 100 Prozent wohlgefühlt und dort nicht so reingepasst. Meine Arbeiten haben nie so funktioniert, wie sie es jetzt tun. Eigentlich war ich ganz froh, als sich meine Arbeit mit Filmen und Musikvideos weiter geöffnet hat.

Das Foto, auf dem ein Haus in Flammen aufgeht, ist ein Still aus dem Musikvideo zu Kendrick Lamars "Element". Warum zeigen Sie als Filmemacher in Ihrer Ausstellung keine Videos?

Das ist tatsächlich eine gute Frage, weil es einen großen Reiz für mich gehabt hätte, viele dieser Motive in Bewegtbild umzusetzen. Das Still aus "Element" ist eines der wenigen Bilder im Buch, die nicht komplett für dieses Projekt entstanden sind, aber einfach sehr gut reingepasst haben. In dem Fall war es für mich spannend, nach so viel Film wieder zurück zur Fotografie zu gehen. Mir hat gefallen, dass es diesmal ein reines Fotoprojekt ist.

Nicht nur bei dem brennenden Haus, auch in anderen Arbeiten tauchen Elemente wie Feuer, Wasser und Luft als Motive immer wieder auf. Gibt es da eine Symbolik?

Ja, natürlich, das sind unglaublich archaische Symbole. Feuer ist wahrscheinlich das elementarste Zeichen der Welt, zu dem jeder einen Bezug hat. Es fasziniert und hat eine eigene Schönheit, selbst wenn es meistens nichts Gutes heißt. Das spielt in die Gedankenwelt rein, in der man mit Archetypen und Klischees arbeitet. Das ist das Absurde - Feuer oder Wasser sind Bilder, die bereits ohne Ende durchexerziert wurden, aber trotzdem immer wieder spannend sind. Dadurch, dass sie die Möglichkeit bieten, in ihnen die eigenen Ideen zu visualisieren - was auch schon viele andere vor und nach mir gemacht haben. 

Sie spielen mit Archetypen und Klischees, gleichzeitig fotografieren Sie nicht analog, weil Sie gegen die Nostalgie sind. Warum keine Nostalgie? 

Das ist etwas anderes. Nostalgie ist Romantik, ist verklärt. Ich war irgendwann an dem Punkt, wo ich mich fotografisch entscheiden musste, wie ich arbeiten möchte. Es gab auf einmal eine extreme Renaissance des Analogen. Bei der digitalen Entwicklung dachte ich: "Natürlich gefällt mir das analoge Bild besser". Aber warum gefällt es mir besser? Weil es Textur, Wärme, Nostalgie und Romantik hat. Die Digitalkamera macht ein Bild, das ich grundsätzlich erstmal hässlich finde. Es ist neu und hat nichts von dieser Nostalgie, die bei uns mit Erinnerungen verbunden ist. Deshalb ist es ist für mich ein besserer "Bullshit-Detektor", Fotos mit der digitalen Kamera zu machen. Wenn da ein Bild gut ist, kann ich mir sicher sein, dass es gut ist. Daher habe ich mich, so verheißungsvoll ich analoges Arbeiten finde, für das fremde Medium, das unbeflecktere Medium entschieden.

Welchen Tipp würden Sie jungen Fotografen und Fotografinnen mitgeben? 

Es gibt in der heutigen Welt immer den Drang, sofort rauszumüssen, zu publizieren und sich zu beweisen. Das ist Pseudo-Selbstprofessionalisierung, jeder ist heutzutage Profi, keiner ist mehr naiver Amateur. Wenn man im kommerziellen fotografischen Arbeiten zu schnell nach außen geht, bevor man weiß, wo man steht, wird man von der Industrie einmal durchgedreht. Dann ist am Ende nicht mehr viel übrig. Für den Job des Fotografen braucht es keine Uni, das kann man alles auch in der freien Welt, oder dort sogar viel besser, lernen. Aber sie schafft einen Freiraum, in dem man nur für sich arbeiten und die eigene kreative Position herausarbeiten kann. Das ist das Wichtigste: Nicht zu früh alles zu professionalisieren. Und so viel wie möglich von dieser Welt aufzusaugen. Das macht immer noch die besten Künstler.