Bagdad ist Kunststadt – das sagt die Kuratorin und Projektemacherin Hella Mewis, die seit den frühen 2010ern in der irakischen Hauptstadt lebt, Ausstellungen kuratiert und Festivals organisiert. Außerdem ist sie Mitbegründerin von Bait Tarkib, einem Ausstellungsraum und einem Anlaufpunkt für junge Kreative.
Hella Mewis, warum sind Sie von Berlin nach Bagdad gezogen?
2010 war ich im Theaterhaus Berlin Mitte Projektleiterin für internationale Projekte, und wir haben ein deutsch-irakisches Theaterfestival veranstaltet. Dann wurden wir nach Bagdad eingeladen. Das Flugzeug ist gelandet, ich bin ausgestiegen und wusste: Ich habe mich in die Stadt verliebt. Man kann die jahrhundertealte Geschichte einatmen. Die kulturellen Traditionen sind überwältigend. Ich habe mich selbständig gemacht, bin zunächst nach Kairo gezogen und von dort immer wieder nach Bagdad gereist, um die Stadt besser kennenzulernen. Seit 2012 lebe ich als freischaffende Kulturmanagerin und Kuratorin konstant in Bagdad. 2013 habe ich mein erstes eigenes Projekt hier veranstaltet, das Theaterfestival Stamba.
Wie ging es weiter?
Nachdem ich recherchiert habe, was hier gebraucht wird, habe ich 2015 mit jungen Irakerinnen und Irakern die Künstlergruppe Tarkib gegründet. Ich habe viele talentierte Künstlerinnen und Künstler kennengelernt, die aber keine Bühne für ihre Arbeit hatten und keine Förder- und Ausbildungsmöglichkeiten in zeitgenössischer Kunst. Die junge Generation muss einfach unterstützt werden, denn das ist die Zukunft des Landes, und die ältere Generation sorgt sich nicht wirklich um Kunst und Kultur.
Was genau war Tarkib am Anfang?
Ein junger Künstler namens Raad Mottar fragte mich Ende 2014: Warum machen wir nicht eine Ausstellung mit Installationen? Ich fand die Idee super. So etwas gab es noch nicht. Mit mir hat er ein Team von neun jungen Künstlerinnen und Künstler zusammengestellt, wir haben einen Antrag beim British Council eingereicht und die erste Tarkib-Ausstellung veranstaltet. Die Leute haben aber verwundert reagiert: "Das ist keine Kunst!" Man war hier anderes gewöhnt. Daraus ist dann das jährliche Tarkib-Festival entstanden, und die Gruppe hat weitergearbeitet. Es gibt eine Basis von Leuten, und die Zusammensetzung wechselt.
Wie haben Sie dann die Räume gefunden?
Das war einfach. Wir haben 2017 ein verfallene Villa entdeckt, die für den Stadtteil Karrada sehr günstig war. Das Haus haben wir gemietet. Dann mussten wir es komplett ausbauen. Bait Tarkib ist Iraks einziges Institut für zeitgenössische Kunst und ein Anlaufpunkt für junge Kreative.
Ein großes Haus?
Bait Tarkib heißt Tarkibs Zuhause. Das ist ein Einfamilienhaus, typische Bagdader Architektur aus den 30ern, mit fünf Räumen. Wir haben noch einen Anbau aufs Dach gesetzt. Das ist unser Studio für 3D-, Grafikdesign und Videoschnitt. Hier werden auch Kostüme genäht. Die verschiedenen Räume haben wir farblich gestaltet. Der lila Raum ist für Musik, der orangene für Ballett, Film- und Theaterproben, Yoga und Kunsttherapie. Dann gibt es einen großen Galerieraum, der auch für Workshops und Meetings genutzt wird und zwei weitere Räume, deren Nutzung wechselt.
Was bedeutet Tarkib eigentlich?
Das arabisches Wort Tarkib heißt Installation, es bedeutet, Dinge zusammenzusetzen.
Das entspricht doch auch dem Prinzip des Hauses – Sie bringen Dinge zusammen, oder?
Ja, die Beteiligten kommen schließlich aus verschiedenen Kunstbereichen. Wir haben auch eine Reihe internationaler Partnerinnen und Tutoren. Die Leute, die zu uns kommen, interessieren sich für Konzeptkunst und Performance, die Dinge, die sie hier an der Kunstakademie nicht studieren können. Daher arbeiten wir zum Beispiel seit Jahren an Bildungsprojekten mit Christina Werner, Fabian Knecht, Raul Walch und Vlado Velkov.
Wenn man sich das Tarkib-Programm anschaut, fällt auf, dass sehr viel im öffentlichen Raum stattfindet – zum Beispiel der "Baghdad Walk" oder aktuell die "AR Open". Warum?
Auch das jährliche Festival findet immer woanders statt. Damit möchten wir verlassene Orte wiederbeleben – "Baghdad Walk" hat das Ziel, unserem Publikum die Stadt näherzubringen, denn die jungen Menschen wissen noch wenig über ihre eigene Stadt, ihre eigene Geschichte. Sie suchen aber nach Identität und Wurzeln. Ein weiteres Anliegen ist, dass wir unsere Kunst zusätzlich einem Publikum zugänglich machen möchten, das normalerweise keinen Zugang zu kulturellen Angeboten hat.
Was macht die Kunst im öffentlichen Raum in der irakischen Hauptstadt aus?
Abgesehen von den Aktionen, die Tarkib in der Öffentlichkeit veranstaltet, ist die Stadt voll mit Kunst. Jeder Platz hat seine eigene Skulptur. Bagdad ist von moderner Architektur geprägt und gleicht einer Bauhaus-Stadt, die moderne Kunst und Architektur mit Traditionen Mesopotamiens verbindet. Das ist jedoch nicht dokumentiert, unter anderem weil 2003 alle Museen, Archive, Galerien und Bibliotheken geplündert wurden. Es gibt wenig verlässliche Quellen, außer den Zeitzeugen, die aber leider schon sehr alt sind. Letztes Jahr ist beispielsweise der Künstler Dr. Balasim Mohammed verstorben, der uns stets eine wichtige Inspiration und Wissensquelle war. Hier spüren wir die Dringlichkeit, das kulturelle Erbe schnell für die folgende Generation zu erfassen. Ein aktuelles Projekt unseres Kollektivs ist es, ein Onlinearchiv mit Kunst im öffentlichen Raum zu erstellen, von 1921 bis 2021 – denn letztes Jahr ist der Staat Irak 100 Jahre alt geworden.
Mit der "AR Open" konzentrieren Sie sich auf Kunst in Augmented Reality. Gibt es viele Künstlerinnen und Künstler in Bagdad, die mit digitalen Medien arbeiten?
Bei "AR Open" haben viele Leute aus Design und Architektur mitgemacht. Die arbeiten sowieso mit digitalen Medien, weil es einfacher ist – ein 3D-Modell ist leichter zu bauen als ein physisches. Für Bildende Künstlerinnen war das Programm auch interessant, weil sie 3D-Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen einsetzen können. Augmented Reality öffnet neue Möglichkeiten. Wir haben zuerst eine Reihe von Workshops durchgeführt, die 3D-Kenntnisse vermitteln. Daraus ist dann eine Ausstellung entstanden, mit beeindruckenden virtuellen Skulpturen, die im Al Zawraa Park präsentiert wurden.
Von den Ausstellenden ist bei Ihnen kaum jemand über 30. Und das Programm richtet sich auch explizit an junge Menschen. Wie ist es, wenn man im Irak jung ist und etwas mit Kunst machen möchte?
Es gibt nicht viele Möglichkeiten, aber Sie können zum Beispiel an der Hochschule für Schöne Künste studieren. Die jungen Leute, die sich für zeitgenössische Kunst interessieren, sind aber eher bei uns. Tarkib ist ein Begegnungsort und Weiterbildungsstätte, die sie mit Vorträgen, Workshops und Labs – einem Angebot zur Weiterbildung in verschiedenen Kunstbereichen – in ihrer professionellen Entwicklung begleitet. Die Trainerinnen und Trainer sind Mitglieder des Kollektivs oder lokale Künstlerinnen und Künstler.
Gehen junge Künstlerinnen ins Ausland, um zu studieren?
Eher selten, weil man nur schwer ein Visum bekommt und sich viele ein Studium im Ausland nicht leisten können. Daher haben wir mit unserer Arbeit auch einen Bildungsauftrag – und Verantwortung gegenüber der jungen kreativen Szene.
Wie haben sich denn die Jahre des Konflikts im kulturellen Leben bemerkbar gemacht?
In Bagdad ging es immer normal weiter. Gestoppt hat das kulturelle Leben nur Corona, aber kein Krieg. Die Hauptstadt ist das kulturelle und künstlerische Zentrum, anders als das Umland. Die Menschen sind offener, es gibt eine breitere Mittelschicht als in den anderen Provinzen. Das Interesse an Kunst ist auch größer.
Wie sehen die Infrastrukturen in Bagdad aus, und wie steht es um Förderungen – Sie arbeiten oft mit dem Goethe-Institut zusammen. Gibt es vor Ort nichts, oder wollen Sie lieber unabhängig bleiben?
Vor 2003 gab es eine vielfältige Kunst- und Kulturlandschaft und eine gut ausgebaute kulturelle Infrastruktur, sowohl staatlich als auch privat. Heute gibt es drei staatliche Museen, die der Öffentlichkeit wieder zugänglich sind. Das Bagdad Museum zeigt das traditionelle Bagdad als Wachsfigurenkabinett, das Irakische Museum stellt archäologische Exponate aus Mesopotamien aus. Das Al-Shaheed-Monument erinnert an gefallene Soldaten. Sonst veranstaltet das irakische Kulturministerium immer wieder Ausstellungen, der Verband Bildender Künstler auch. Außerdem gibt es das Bagdader Kulturzentrum in der Mutanabbi Straße und das gegenüberliegende Al Koschla Gebäude, sowie private Galerien, die in den letzten Jahren wieder öffnen. Und es gibt eben Bait Tarkib.
Wie sieht die Zukunft von Tarkib aus?
Zu Beginn des Jahres haben wir das Programmangebot mit den Labs wieder aufgenommen. Wir veranstalten monatliche Ausstellungen und bieten jungen Musikerinnen, Autoren und anderen Künstlerinnen eine Plattform. Außerhalb von Bait Tarkib werden wir im Mai das achte Tarkib Bagdad Festival für zeitgenössische Kunst veranstalten, gefolgt von einer weiteren "AR Open"-Workshopreihe mit Ausstellung. Im Herbst organisieren wir den fünften "Baghdad Walk" und gemeinsam mit der Al Shameel Company die erste Baghdad Design Week. Einige Aktivitäten werden projektbezogen gefördert, andere Vorhaben werden mit wenig oder eben keiner Finanzierung realisiert – das ist nicht einfach, denn ohne Förderung haben die jungen Kunstschaffenden hier keine Perspektive. Sie leben für Kunst, weil sie daran glauben, dass sie eine Veränderung in der Gesellschaft bewirken können. Das hat das Kollektiv in der Vergangenheit bereits bewiesen. Wir haben noch bis Juni 2022 eine institutionelle Förderung von der Stiftung European Endowment for Democracy, mit der wir die Fixkosten für Bait Tarkib abdecken können. Wir möchten weiterarbeiten und sind für Unterstützung jeglicher Art sehr dankbar.
Wer ist denn eigentlich Ihr Stammpublikum?
Junge Leute und Familien aus der Mittelschicht. Vor allem auch Frauen – wir haben 40 Prozent Beteiligung von Frauen, was sehr hoch ist in einem Land der MENA-Region ("Middle East & North Africa", Anmerkung der Redaktion). Es sind Menschen, die sich für Kunst und Kultur interessieren, und die wissen: Kunst bildet.