Animationsfilm "Die Odyssee"

"Migration beschäftigt mich schon sehr lange"

Aus 120.000 Malereien hat die Regisseurin und Künstlerin Florence Miailhe den Animationsfilm "Odyssee" über die Flucht zweier Kinder geschaffen. Ein Gespräch über universelle Geschichten und die Kraft der Farben

Der Animationsfilm "Die Odyssee" erzählt von der Flucht zweier Kinder, die aus einem fiktiven Land vertrieben werden und monatelang über den Kontinent irren, auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Mehr als zehn Jahre arbeitete die französischen Animationskünstlerin Florence Miailhe (geboren 1956 in Paris) an ihrem Langfilmdebüt, das aus rund 120.000 Einzelbildern besteht, handgemalt in Öl auf Glas. Ein Gespräch über den Entstehungsprozess, Ästhetik und die eigene Familiengeschichte.


Florence Miailhe, Sie haben Ihren Film der eigenen Mutter und Großmutter gewidmet. Weil "Die Odyssee" auch mit Ihrer Familie zu tun hat?

Das Thema Migration beschäftigt mich schon sehr lange, aus persönlichen Gründen, aber auch allgemein. Als sich 2005 die ersten großen Fluchtbewegungen des 21. Jahrhunderts abzeichneten, fing ich an, darüber nachzudenken, wie ich mich filmisch und künstlerisch damit auseinandersetzen kann. Ziemlich genau 100 Jahre zuvor waren meine Vorfahren aus Odessa in den Westen geflohen, damals wie heute mussten viele Menschen dieses Gebiet verlassen, Juden, Armenier, Griechen, Italiener… Meine Familie floh damals wegen der antisemitischen Pogrome, die dort schon lange vor den Nazis stattfanden. Auch das Schtetl meiner Familie wurde angegriffen und die Menschen hatten keine andere Wahl, als alles zurückzulassen und zu fliehen. Im Film geht es aber nicht explizit um dieses historische Ereignis, ich wollte universeller über Flucht und Migration erzählen. Mir war wichtig zu zeigen, was diese Fluchtbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts mit unserer Gegenwart zu tun haben, wie sich vieles gerade wiederholt.

Warum wollten Sie nicht konkret die Geschichte Ihrer Großmutter erzählen?

Ich kenne die Details ihrer Fluchtgeschichte nicht genug, um das historisch präzise wiedergeben zu können. Ich weiß nur, dass sie mit ihren zehn Kindern geflohen ist. Deren Nachkommen sind über alle Welt verstreut, und ich hatte überlegt, sie aufzusuchen und nach ihren Legenden der Flucht damals zu befragen. Aber dann war meiner Co-Autorin Marie Desplechin und mir schnell klar, dass es besser ist, wenn wir es abstrakter gestalten und aus einem historischen Kontext herauslösen und eher als zeitloses Märchen erzählen.

Die Kinder auf der Flucht durch Wald und Wiesen erinnern bisweilen an "Hänsel und Gretel", zugleich handelt der Film von sehr realen Gräueln. Wie schwierig war es da, den richtigen Tonfall zu finden?

Das hat sich aus dieser Entscheidung für das Märchenhafte heraus organisch ergeben. Für jedes Kapitel haben wir Farben und Stil verändert, um so auch den Fluss der Zeit nachfühlbar zu machen. Um der Komplexität des Themas gerecht zu werden, haben wir uns auf das Archetypische konzentriert, einige Figuren sind eindeutig in Gut und Böse eingeteilt, die Soldaten etwa haben noch nicht einmal Gesichter, andere sind widersprüchlicher, weil ihre wahren Motive lange nicht klar sind. Aber uns war bewusst, dass wir die Brutalität letztlich nicht realistisch darstellen können, das auch gar nicht wollen. Vieles ist nur angedeutet, wir mussten andere Bilder für diese Traumata finden, ohne sie zu ästhetisieren oder zu banalisieren.

Sie wählen dafür eine Animationstechnik aus sich überlagernden Ölfarben. Wie sind diese Bilder entstanden?

Jedes Bild besteht aus mehreren Ebenen, die wir mit Ölfarben auf vier einzelne, mit kleinen Abständen übereinander installierte Glasplatten auftragen und dann mit einer fest eingerichteten Kamera von oben ein Einzelbild fotografieren. Dann machen wir winzige Veränderungen, eine kleine Bewegung hier, ein Augenaufschlag da, dann kommt die nächste Aufnahme. Ein sehr aufwändiger Prozess, bei dem aber auch viel Freiraum zum Ausprobieren ist. Und die Kamera ist Zeuge der Entwicklung dieser Bilder. Dabei ist die unterste Ebene das Dekor, wir hatten etwa 600 solcher Hintergründe im gesamten Film. Die zweite und dritte Schicht sind die Figuren, aufgeteilt in Hell- und Dunkelpartien, die dadurch leicht abgelöst vom Rest in Bewegung gebracht werden können. Und auf der vierten befinden sich all die Details, die sich im Vordergrund abspielen, ein Vogel etwa, oder die schwarzen Wolken, die sich immer wieder ins Bild schieben. Das ist natürlich nicht nur mein Werk, allein zehn Künstlerinnen malten nach meinen Entwürfen je fünf Monate die Hintergründe. Wir hatten Studios in Toulouse, Prag und Leipzig, in denen parallel am Film gearbeitet wurde, zum Teil über 18 Monate.

Warum haben Sie sich gerade für diese Technik entschieden?

Wegen der Ästhetik, die so nur durch diese Art, Öl auf Glas aufzutragen, entsteht. Die Herausforderung war, das mit einem großen Team auf Spielfilmlänge umzusetzen. Der Wechsel von Kurz- zu Langfilmen bedeutet für die meisten Animationskünstler, dass sie den Weg der Industrialisierung einschlagen, "effizienter" werden, weg von der kleinteiligen Handarbeit. Ich wollte aber weiter künstlerisch und handwerklich arbeiten, um die besondere Anmutung meiner Filme zu bewahren. Vielleicht hat es deswegen so lange gedauert, bis ich meinen ersten Spielfilm realisieren konnte.

Wie haben Sie die Ästhetik entwickelt? Gab es Inspirationen in der Kunstgeschichte?

Meine Handschrift habe ich in den 30 Jahren, in denen ich Kurzfilme mache, entwickelt. Beeinflusst wurde ich dabei sicher von der Arbeit meiner Mutter, der Malerin Mireille Miaihle. Sie wiederum war geprägt vom Fauvismus, Henri Matisse, André Derain und andere, aber auch Paul Gauguin und Marc Chagall. Im Wesentlichen geht es für mich immer um die Frage, wie man mit Farbe umgeht. Die Malerei erlaubt es mir, lyrischer zu arbeiten - mit Andeutungen und Unperfektem, statt exaktem Design wie bei computeranimierten Trickfilmen. Durch dieses Spielerische kann ich in Zeit und Raum undefinierter bleiben. Denn auch, wenn jedes Schicksal anders ist, ähneln sich die Fluchterfahrungen in vielem und bleiben erschreckend relevant.