Mit der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Osten von der Eisenindustrie im Ruhrgebiet abgeschnitten. Da in Ostdeutschland das Steinkohlevorkommen äußert begrenzt war, wurde nahe der polnischen Grenze das "Eisenkombinat Ost" errichtet und mit ihm die erste sozialistische Planstadt: Stalinstadt, heute besser bekannt als Eisenhüttenstadt. Innerhalb weniger Monate wurde der Ort, unabhängig von privatwirtschaftlichen Interessen, komplett neu konzipiert und binnen kürzester Zeit errichtet. Der erste Hochofen ging im September 1951 in Betrieb. Das war vor 70 Jahren. Dieses Jubiläum gibt Anlass, sich intensiver mit der Stadtplanung und einzigartigen Architektur von Eisenhüttenstadt auseinanderzusetzen.
Herr Maleschka, 1950 wurde mit dem Bau vom Stalinstadt begonnen, und schon wenige Monate später waren das Werk und die ersten Wohnkomplexe errichtet. Was motivierte Menschen dazu, sich in einer komplett neuen Stadt, ohne persönliche Bezüge und Geschichte niederzulassen?
In der damaligen Stalinstadt war ein völlig neuer Geist zu spüren. Es gab einen neuen Staat mit einer neuen Ideologie - einem sozialistischen Menschenbild. Die Aufbruchsstimmung und der Gedanke an Zukunft war immens groß. Das motivierte die Menschen nach dem Krieg einen Neustart zu wagen. Sie kamen von überall. Gerade auch Leute, die aus ihrer alten Heimat vertrieben wurden wie beispielsweise meine Großeltern väterlicherseits. Außerdem gab es sofort Arbeit und modernen, bezahlbaren Wohnraum.
Im Vergleich zu anderen Eisenproduktionsstätten wurde in Eisenhüttenstadt wenig Eisen hergestellt und die Produktion war durch die langen Transportwege des Erzes sehr teuer. Wieso wurde ausgerechnet dieser Standort gewählt?
Ursprünglich waren Standorte geplant, die mehr im Landesinneren der 1949 neu gegründeten DDR lagen. Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht entschied sich jedoch letztlich aus militärstrategischen Gründen für das nah an der Oder gelegene und bereits an das Eisenbahnnetz angeschlossene Fürstenberg/Oder. Und richtig, das Eisenerz und die Kohle kamen aus Schlesien, also Polen, und der Ukraine, beispielsweise aus dem ukrainische Krywyj Rih, ein Standort, der ebenso von Schwerindustrie geprägt war.
Wie würden Sie die Beziehung von Werk und Stadt beschreiben? Spielt das Werk auch heute noch eine Rolle für die Stadt?
Die sechsköpfige Hochofensilhouette wurde von 1951 bis 1955 errichtet. Nach der Wende wurden Hochöfen abgebrochen und anstelle des Paars fünf und sechs wurde der neue, modernere und effizientere Hochofen fünf a errichtet, der als Einziger auch heute noch produziert. Eisenhüttenstadt ist und bleibt ein Industriestandort - die Stadt ist abhängig vom Werk und genauso umgekehrt. Eine Symbiose, die die Stadt mit sich selbst hat. Ohne das Stahlwerk würde die Stadt auf lange Sicht wohl nicht überleben.
Wie wurden das Eisenhüttenkombinat und die Stadt im Plan miteinander verbunden?
Die Wohnstadt hat man unter anderem aufgrund des Höhenzugs der Diehloer Berge südlich des Kombinats angesiedelt. Fächerförmig wurden die Wohnkomplexe I bis IV zwischen dem nördlich gelegen Stahlwerk und dem westlich gelegen Höhenzug aufgespannt. Die Städteplaner - wie etwa der Stadtarchitekt der erste Stunde Kurt W. Leucht - wollten damit erreichen, dass bei überwiegendem Westwind der Rauch des Werks gar nicht erst in die Stadt gelangt. Das hat in der Praxis leider nicht immer gut funktioniert.
Die Gebäude in Eisenhüttenstadt wurden hierarchisch gegliedert. Bauten, die dem sozialistischen System entsprachen, wurden prominenter platziert als andere. Können Sie diese Hierarchisierung erklären?
Es waren ja generell vor allem Kirchen, die nicht in das sozialistische Denken passten. Es gibt nur einen Kirchenneubau von 1980. Dieser sollte aber natürlich nicht auffällig in Szene gesetzt werden, sodass der Kirchturm die Silhouette der Stadt überragt, wie es in vielen altertümlichen Kleinstädten der Fall ist. Daher wurde nur ein Gemeindezentrum gebaut und die Glocken wurden schlichtweg daneben auf den Boden gestellt. Die Finanzierung erfolgte mit Westgeld. Repräsentative Bauten wurden hingegen meist an Endpunkten von Straßenfluchten gesetzt, damit diese einen zusätzlichen optischen Reiz bekommen. Das war beispielsweise die Großgaststätte "Aktivist", Schule II oder das Krankenhaus. Die Magistrale war grundkonzeptionell seit 1950 angelegt worden. Ihre ersten Bauten waren das heutige Rathaus und das Friedrich-Wolf-Theater, welche über viele Jahre in Sichtbeziehung standen. Komplettiert wurde die Magistrale aber erst mit Beginn der 1960er-Jahre, durch Wohnbauten, Ladenzeilen, Auto-Pavillon und Einrichtungen des täglichen Bedarfs. Es entstand ein starker baulicher Kontrast, wobei lediglich wenige Jahre zwischen den Bauwerken liegen. Spannend!
Man sagt ja auch, dass mit der Umbenennung von Stalinstadt in Eisenhüttenstadt ein optischer Bruch in der Architektur zu sehen ist, stimmt das?
Ja, in Eisenhüttenstadt hat man bis zum Ende der 1950er-Jahre noch traditionell Stein auf Stein gebaut. Erst danach hat man industriell zunächst Betonblöcke und später dann Großtafeln (Betonplatten) hergestellt. Die Wohnkomplexe I bis VII sehen daher allesamt unterschiedlich aus. Die sogenannten "Stalinbauten" des Wohnkomplex‘ II wurden rein äußerlich noch mit Schmuckelementen und ornamentaler Bemusterung gekleidet – leicht angelehnt an den Jugendstil. Die Umbenennung von Stalinstadt in Eisenhüttenstadt geht mit dem baulichen Wandel einher. Gut sichtbar wird das an der Schnittstelle Fritz-Heckert-Straße, die den stilistischen Übergang vom Wohnkomplex II zum Wohnkomplex III markiert. Die Kubatur und das Erscheinungsbild wandeln sich vollkommen.
Haben Sie noch Beispiele?
Im Wohnkomplex II gab es fast ausschließlich Flachdächer. Mit dem Eintreten der "Entstalinisierung" verwendete man Sattel- und Walmdächer. Der Wohnkomplex III ist eine kurzzeitige architektonische Phase, in der man sich auf den heimatlichen, völkischen Stil rückbesonnen hatte, bevor man anfing industriell zu produzieren. Bauten des Wohnkomplexes III wirken ein wenig "niedlicher". Gurtgesimse und Ornamente sind gewichen, Holzerker und Putzschnittarbeiten mit Tier- und Märchenmotiven waren völlig neu.
Besonders auffällig sind die breiten Straßen der Stadt und vielen Freiflächen. Welche städtebaulichen Zwecke erfüllten diese?
Das war ebenso ein Grundgedanke in der Konzeption von Kurt W. Leucht. Die Grünflächen wurden in ihrer Vegetation komplett durchgeplant und sollten als Ruhe- und Erholungsorte dienen. Seit Anbeginn wurde pro Einwohner:in eine bestimmte Anzahl an Quadratmetern Grünfläche im öffentlichen Raum eingeplant. Viel Grünraum und verkehrsfreie Innenhöfe garantieren Entspannung. Vor allem ist die Stadt heute grüner denn je!
In der DDR hatte Kunst einen hohen Stellenwert in der Bauplanung. Zwei Prozent des Budgets mussten fest für Kunst eingeplant werden. Kann daran ihre Stellung innerhalb des Bauplans gemessen werden?
Die Kunst wurde in Eisenhüttenstadt/Stalinstadt gleichsam immer mitgeplant. Eisenhüttenstadt hat ein einzigartiges Konzept von Städtebau, Architektur und Kunst. Im Laufe der Zeit änderte sich die Wirtschaftskraft der DDR, sodass das Budget für Kunst immer weniger wurde. Anfangs haben die Künstler:innen etwa zwei Prozent bekommen, Ende der Achtziger waren es nur noch um die 0,5 Prozent. Das Honorar, und folglich auch die Motivation und Stimmung der Künstler:innen, war dementsprechend niedrig. Die Materialbeschaffung wurde zusehends schwieriger, und die Kunst bekam einen eher dekorativen Charakter. Die baukünstlerischen Werke mussten mit dem industriellen Bauen Schritt halten und wurden schneller produziert. Anfang der 1950er-Jahre konnte man noch eher langsam ein Natursteinmosaik setzen oder Kaseinmalereien auf den Putz aufragen. Im Rathaus gibt es beispielsweise ein riesiges Wandmosaik von Walter Womacka, das Jahre gedauert hat. Das war in den 1970er-Jahren so nicht mehr machbar.
Bei DDR-Kunst denken viele vor allem an sozialistische Wandbilder. Was gab es abseits von figurativer propagandistischer Malerei?
Wie bereits erwähnt, gab es auch viele dekorative Arbeiten. Gerade ab den 1970er-Jahren, in denen der industrielle Wohnungsbau massiv einsetzte, wurden beispielsweise Fassaden und Balkonbrüstungen mit abstrakten Betonmustern verbaut. Daneben waren Raumfahrt, Kosmos und natürlich die Friedenstaube beliebte Motive. Auch in und an Kindergärten wurden primär Bildmotive aus Märchen, Fabeln und der Flora und Fauna gewählt. Das ist zwar auch figürlich, aber völlig unpolitisch. Politisch motivierter waren die Werke vielleicht bis Anfang der 1960er-Jahre, danach hat es meines Erachtens stark nachgelassen und war zumeist nur in öffentlichen Repräsentationsbauten zu finden.
Laut Stadtplan sollte ein Kulturzentrum der Mittelpunkt der Stadt werden. Zum Bau kam es aber nie. Wie konnte sich ein kulturelles Leben in der Stadt entwickeln?
In den ersten Jahren waren überwiegend Männer als Arbeitskräfte in der Stadt. Später kamen mehr und mehr Frauen nach - und dementsprechend auch eine nächste Generation. Nach der Arbeit wollten die Männer ihre Frauen gern in ein Tanzlokal oder zum Abendessen ausführen. Gefördert wurde diese Tendenz im Zuge des Arbeiteraufstandes von 1953. So wurden erste wichtige Kulturstätten wie das Friedrich-Wolff-Theater, der "Aktivist" oder die Berggaststätte auf "Diehloer Höhe" errichtet.
Im Jahr 1989 war die Einwohnerzahl der Stadt auf ihrem Höchststand von 53.000. Mit der Wende halbierte sich die Zahl auf unter 24.000. Wie beeinflusste diese Flucht die Stadt?
So steil, wie es mit der Stadt 1950 bergauf ging, ging es nach 1990 leider bergab. Nach der Wende stand die Zukunft des Werks auf der Kippe. Ob Eisenhüttenstadt noch Stahl liefert, war ungewisser denn je. Scharenweise sind Leute verzogen, vielfach dorthin, wo es Arbeit und Perspektive gab. Der demografische Wandel hatte starken Einfluss auf den Städtebau, Architektur und auf die Kunst.
Wie geht die Stadt mit ihrem architektonischen Erbe um? Was steht unter Denkmalschutz?
Es wurde bisher schon viel abgerissen. Glücklicherweise stellte die Regierung der DDR bereits in den 1980er-Jahren den Wohnkomplex I bis III unter Flächendenkmalschutz. Das ist heute Deutschlands größtes zusammenhängendes Flächendenkmal. Und genau dafür können wir wirklich dankbar sein. Innerhalb des Flächendenkmals gibt es zudem viele Gebäude, die ausgewiesene Einzeldenkmäler sind. Die Kernstadt (Wohnkomplex I bis III) wurde denkmalpflegerisch äußerst sanft angefasst. Die Fassaden sehen fast alle noch so aus wie damals, vielleicht sogar noch besser. Zum Beispiel hat man behutsam nur wenige Zentimeter Wärmedämmung nach denkmalpflegerischen Auflagen aufgetragen und keine dicken Dämmplatten verwendet, wie man es von sanierten Neubauvierteln kennt. Das ist essenziell. Von der Materialität, Optik und Detailreichtum ist dadurch kaum etwas verloren gegangen. Selbst im nicht denkmalgeschützten Wohnkomplex VI wurde auf die typische Optik geachtet. Das Sanierungskonzept sah einen Satteldachaufbau anstelle der markanten V-Dächer (Schmetterlingsfalten) vor. Das wurde letztendlich abgelehnt. Es ist manchmal der Unnachgiebigkeit einzelner Personen zu verdanken, dass es dieses blocktypische Erscheinungsbild überhaupt noch gibt. In den Neubauvierteln vieler anderer ostdeutscher Städte sind die Modernisierungsmaßnahmen haarsträubend.
Wie sieht kulturelles Leben in Eisenhüttenstadt heute aus? Sind kulturelle Projekte für die Zukunft geplant?
Glücklicherweise hat sich der Berliner Unternehmer Holger Friedrich nach einer Stadtführung in Eisenhüttenstadt, in die alte Selbstbedienungskaufhalle im Wohnkomplex III verliebt. Nachdem sie nach der Wende lieblos und vor allem eher zweckdienlich als Schnäppchenmarkt saniert wurde, wollen wir sie jetzt in ihren Ursprungszustand von 1957 zurückversetzen und den Bau in eine Kunsthalle und Veranstaltungsort verwandeln. Eine beinahe zum "Lost Place" verkommene Immobilie bekommt nun ihre zweite Chance, die gleichsam eine sehr große für Eisenhüttenstadt selbst und für die ostmoderne Architektur im Allgemeinen ist. Zum anderen gibt es da das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR. Das ist ein ehemaliger Kindergarten der seit 1993 Ausstellungen zum DDR-Alltag, aber auch eine Vielzahl an Sonderausstellungen präsentiert. Eine neue Sonderausstellung, an der ich auch beteiligt bin, wird (hoffentlich) noch in diesem Jahr eröffnen - "Ohne Ende Anfang. Zur Transformation einer sozialistischen Stadt". Die Ausstellung widmet sich der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Eisenhüttenstadts, im Vergleich mit Schwedt/Oder und Nowa Huta. Im Besonderen schauen wir auf die Transformationsphase der 1990er-Jahre. Grundsätzlich fehlt es aber an weiteren kulturellen Highlights. Kultur kann es nie genug geben.
Was muss passieren, damit sich Kultur noch mehr entfaltet?
Wenn niemand anfängt, etwas zu machen, dann passiert auch nichts. Es braucht einen Grundwillen, eine Idee, Motivation und natürlich ein Netzwerk, um gewisse positive Akzente zu setzen. Nur gemeinsam und im Verbund mit weiteren Aktivist:innen ist es möglich, etwas zu verändern. Genau darauf arbeite ich in dieser Stadt hin.
Denken Sie, baubezogene Kunst kommt heute zu kurz? Was kann zeitgenössische Architektur von der Architektur der DDR lernen?
Eine ganze Menge. Politische Inhalte in der Kunst waren, wie gesagt, reduziert auf öffentliche Repräsentationsbauten. Abseits davon gab es noch so viel mehr. Die Bundesregierung achtet in ihren Programmen mittlerweile schon darauf, dass bei neuen Projekten Künstler:innen für Kunst am Bau mit eingeplant werden. Und das ist löblich.
Finden Sie die Wiedereinführung einer Quote sinnvoll?
Auf manchen Länderebenen gibt es solche Regelungen schon, und das freut mich. Man spürt förmlich, wie es mit dem Thema "Kunst am Bau" bergauf geht. Der Nachteil heute ist, dass Städte nicht mehr komplett neu geplant werden. Vielmehr muss die Kunst, und der dazugehörige Neubau, immer in eine bereits vorhandene Stadtstruktur gebettet werden. Eisenhüttenstadt ist und bleibt dahingehend einzigartig.