Anna K.E., für Ihre Ausstellung "Dolorem Ipsum" in Hannover haben Sie zwei große Museumsräume der Kestner Gesellschaft in begehbare Environments verwandelt: Einen Proberaum mit Spiegel, einer Videoinstallation und zwei eingravierten Ballettstangen und einen Bühnenraum, dessen weiß geflieste Empore von Hunden aus Marzipan und zwei Bushaltestellen umgeben ist. Inwiefern hat die Museumsarchitektur Einfluss auf Ihre Ausstellung genommen?
Meine Arbeiten entstehen immer im Dialog mit den Ausstellungsräumen. Wenn ich eingeladen werde, verbringe ich vorher viel Zeit in den Räumlichkeiten, um dort zu skizzieren. Bei der ersten Begehung der Kestner Gesellschaft mit Adam Budak und Alexander Willmschen habe ich einen Einblick in die Geschichte des Hauses bekommen und viel Zeit zeichnend im Keller verbracht, in dem noch alte Schwimmbadfliesen gelagert werden.
Und dann?
Im Atelier reduziere ich dann die Eindrücke zu einer Essenz. Dabei hat mich die Geschichte des Hauses als ehemaliges öffentliches Schwimmbad besonders fasziniert. Anhand alter Aufnahmen habe ich die Deckenleuchten des "Grossen Schwimmsaals" nachbauen lassen und gleichzeitig zu Lautsprechern umfunktioniert. Was mich interessiert, sind Leerräume, denn sie geben den Besucher:innen bestimmte Bewegungen vor. So wie in einer Choreografie, mit der ich den Raum bespiele. Objekte nehmen dabei die Rolle von Zitaten an, wie Fragmente baue ich sie in die bestehende Architektur ein, sodass sich nicht unbedingt mehr nachvollziehen lässt, was ursprünglich schon dort war. Im "Proberaum" habe ich beispielsweise einen riesigen Spiegel an der Wand angebracht, der den Raum und auch die Kurven in den hohen Decken visuell wiederholt und so eine Art virtuelle Erweiterung schafft.
Vor Ihrem Kunststudium in Düsseldorf haben Sie eine klassische Ballettausbildung absolviert, sich dann aber komplett vom Tanz abgewendet und diesen Teil Ihrer Geschichte lange geheim gehalten. Wie kam es zu dem Bruch?
Auf Rat meiner Großmutter, die eine bekannte Schauspielerin in Georgien ist, habe ich in meiner Heimat und in Deutschland Ballett studiert. Dabei bildet man eine enorme mentale und physische Disziplin, trainiert sieben mal die Woche. Irgendwann identifiziert man sich nur noch durch diese Routine. Ich hätte mich selbst und meine Wahrnehmung dabei fast verloren, denn alles bezog sich obsessiv nur noch auf meine Präsenz im Raum. Obwohl das so egozentriert erscheint, fühlte ich mich wie ein kleines Molekül. Irgendwann habe ich dann einfach aufgehört, habe für mehrere Jahre gar nicht mehr getanzt oder trainiert und nur noch als Künstlerin gearbeitet. Diese Umstellung war hart, auch physisch, aber sie hat mir ermöglicht, mit einem nomadischen Bewusstsein meine Umwelt zu erleben. Erst nach unserem Umzug nach New York ist dieser Teil meiner Biografie durch eine Kunstkritikerin wieder an die Oberfläche gekommen.
Wie integrieren Sie diese tänzerische Wahrnehmung heute in Ihre künstlerische Arbeit?
Ich bespiele Räume – daran hatte auch die Kunstkritikerin gemerkt, dass ich vom Tanz komme. Wenn ich etwas im Raum installiere, denke ich nicht zuerst an das Objekt, sondern hauptsächlich an das Verhältnis zwischen Raum und Objekt. In diesem Zwischenraum von Tribüne und Bühne befinden sich die Betrachter:innen. Dort finden die Bewegung und die Wahrnehmung statt.
Am Eröffnungstag von "Dolorem Ipsum" haben Sie zum ersten Mal seit dem Ende Ihrer tänzerischen Karriere eine Live Performance vor Publikum aufgeführt. Sie fand auf der gefliesten Bühne im Hauptraum Ihrer Ausstellung statt. Worum ging es bei der Performance?
Die geflieste Bühne hat genau die gleichen Maße wie das Atelier in New York, das ich mit meinem Partner Florian Meisenberg teile. Dadurch wird die Bühne mein privater Raum. Fast alle meine performativen Videoarbeiten sind im Atelier entstanden. Die Performance greift Bewegungen auf, die mit Schaffensprozessen verbunden sind, zum Beispiel, wenn ich mich bücke, Gegenstände durch den Raum trage und arbeitend auf dem Boden krieche. Florian hat mich oft im Atelier gefilmt und ich habe mich selbst durch seine Präsenz anders wahrgenommen. Die Performance "Promise never lies" in der Kestner Gesellschaft bezieht sich explizit auf die erste Videoarbeit "Gloss of a Forehead" von 2011, die ich in New York gedreht habe.
Inwiefern?
In “Promise never lies” bewege ich mich tief nach vorne gebeugt durch den Raum, mein Hinterteil ist halb nackt. Die ovale Form meines Körpers spiegelt die Kuppeln der massiven Museumsarchitektur wider. Durch die Beugung bewegen sich aber auch die Genitalien hierarchisch nach oben, während der Kopf nach unten wandert. Auch der Maßstab meines Körpers verändert sich: Ich biege mich ja in der Hälfte, werde intimer und kreiere so ein ironisches Selbstporträt. Es gibt dazu einen schönen Text von Gia Edzgveradze mit dem Titel "The silky ass/about the economy of cultural artistic signs and relations," der in meinem ersten Buch erschienen ist
Auch Ihre Videoarbeit "Peripheral Monday" im Proberaum der Ausstellung greift die Idee künstlerischer Virtuosität ironisch auf: Sie erscheinen auf einem fünf Meter hohen LED-Monitor und spucken 50 Minuten lang kontinuierlich auf die Kameralinse, während Betracher:innen Ihnen dabei aus untersichtiger Perspektive zuschauen. Verstehen Sie diese Gesten – das Spucken und Ihre gebeugte Performance – als Gegenbilder zu dem Ideal des disziplinierten, choreografierten Körpers?
Es sind bloßstellende Momente, sie zeigen die Verletzlichkeit des Körpers und der Existenz. Das exzessive Spucken ist zum Einen ein Prozess der Dehydration, es ist aber auch eine endlose Reinigung, eine Art von Katharsis. Da Spucke auf die Linse fällt, wird langsam alles unscharf, das rhythmische Hämmern der fallenden Spucktropfen verliert sich im Rauschen des "Ozeans" der Spucke, die das Mikrofon des Telefons umschließt. Das ist einer der wichtigste Aspekte des Videos: ich lösche mein eigenes Bild aus, abstrahiere aber auch eine Generalisierung des menschlichen Porträts und Körpers hin zu einer Art kosmischen Erfahrung des Samsara.
Flüssigkeiten sind nicht nur in dieser Arbeit, sondern in der ganzen Ausstellung zentrales Motiv. Wie würden Sie diese Verbindungen beschreiben?
Diese Fluidität verbindet alles miteinander: sowohl akustisch als auch substantiell: "Peripheral Monday", im Proberaum, zeigt einen horizontalen Kreislauf. Im Bühnenraum befindet sich eine vier Meter hohe Wasserhahn-Konstruktion, aus der kontinuierlich Wasser nach unten auf eine fehlende Fliese der Bühne fällt - ebenso spielen die Lautsprecher einen von mir komponierten Shepherd's Tone ab – die Illusion eines permanent fallenden Tones. So entsteht hier ein vertikaler Kreislauf. Diese zwei Achsen – horizontal und vertikal – treffen sich symbolisch irgendwo im Raum. Auch das Material von Marzipan – diese klebrige und hautartige Substanz – taucht in der Ausstellung immer wieder als etwas Fluides auf: Die Ballettstangen im Proberaum zeigen eingravierte kurze poetische Sätze, die mit Marzipan verspachtelt sind und mit der Zeit durch das Austrocknen ihre Flexibilität verlieren. Vertrocknet wirkt das Marzipan fast wie weißlicher Marmor.
Auf dem Boden des Bühnenraums verteilen sich räkelnde, lebensgroße Hundeskulpturen, die Sie erst 3D-gedruckt und dann mit Marzipan überzogen haben. Was hat es mit diesen Hunden auf sich?
Durch die Hunde entfaltet sich dieses ruhige Stillleben im Raum, das ich "Silence in my Pocket" genannt habe. Betrachter:innen können sich in die Bushaltestellen neben der Bühne begeben und aus diesem privateren Zwischenraum versteckte Choreografien entdecken. Hunde leben ja meist an Menschen orientiert und erweisen in dieser Abhängigkeit ständig ihre Dienste. Die Hunde in der Ausstellung haben vielleicht ihre vollständige Freiheit erreicht, sie sind sozusagen "außer Dienst."