Adrian Lahoud, große Architekturbiennalen und -triennalen sind ein junges Phänomen, aber wir sind in einer Phase, in der es bei diesen Ausstellungen kaum noch ums Bauen geht. Wie erklären Sie sich das?
Für uns waren die Dinge interessant, die sonst nicht in Architekturschauen zu sehen sind. Die erste Architekturbiennale von Venedig fand 1980 statt, damals ging es noch um die Stars der Szene. Bei der Schardscha-Triennale, die 2019 stattfand, haben wir keine berühmten Architekten eingeladen und uns keine ikonischen Bauten angesehen.
Was wollten Sie bei der Triennale im Emirat Schardscha anders machen?
Bei uns gab es zum Beispiel ein Projekt, das sich mit Dienstmädchenzimmern im Libanon und in Südostasien befasste. Wir konnten so Machtverhältnisse beobachten, die sich in Räumen und Grundrissen manifestieren. Eine andere Recherche in der Ausstellung beschäftigte sich mit einem Apartmentkomplex im Iran. Sein Name ist “Mehr”, das bedeutet Mitgefühl auf Farsi. Ahmadineschad hat den Bau in Auftrag gegeben, um sich politische Unterstützung in der Arbeiterklasse zu sichern. Alles keine Projekte, die man typischerweise in einer Architekturbiennale findet. Sie sind eher auf Recherche ausgerichtet.
Was bedeutet das für die Ausstellung?
Wir sind in zwei Richtungen gegangen, indem wir alltägliche politische Situation in Wohnräumen betrachtet haben. Bei der anderen ging es darum, wie indigene Völker im großen Stil ihre Umwelt verändert haben.
Sie wollten nach eigener Aussage die Architekturausstellung dekolonialisieren, aber wo sind denn in der Ausstellung üblicherweise diese kolonialen Strukturen?
Im Kern der traditionellen Architekturschau steckt der Blick auf die nicht-westliche Welt als unterentwickelt. Und dieses Verständnis gibt es immer noch, denn die Klischees werden weitergegeben. Am Ende der Geschichte erscheinen dann immer Architekt*innen aus dem Westen und bringen Entwicklung und "Moderne".
Wie wollen Sie dagegen vorgehen?
Wir wollten die Prämisse von Obdach dekonstruieren: das heißt, die Einteilung der Welt in eine feindliche Umwelt – kalt, nass, voller Raubtiere – und dagegen das sichere Gebäude. Das wird als Ursprungsgeschichte der Architektur erzählt, und darin steckt gleich schon die Trennung von Subjekt und Objekt.
Moment, gerade gab es ein Gewitter in Berlin, und ich war ganz froh, in meiner Wohnung zu sein. Ist Obdach etwa keine essenzielle Bedingung für das Bauen?
Ich habe ein Beispiel für Sie: Indigene Völker in Borneo bauen Langhäuser. Architekten und Anthropologen erkennen das sofort als Obdach. Für die Bewohner ist der Raum aber vertikal in neun Ebenen unterteilt, die nicht von Menschen, sondern von Gottheiten bewohnt werden. Das Haus hält den Regen ab, aber es erfüllt noch andere Funktionen. Die sind ebenso wichtig, kommen aber selten in der Architekturgeschichte vor. Wir wollten andere Beziehungen von Mensch und Umwelt eröffnen. Wir wissen auch, dass viele Gesellschaften ihre Umwelt räumlich auf eine Art organisieren, die überhaupt nicht aussieht wie ein Obdach, aber alle Anforderungen der gesellschaftlichen Organisation erfüllt. Die Kolonialmächte haben die Strukturen indigener Völker einfach nicht als Gebäude erkannt.
Ihr Ausgangspunkt der Triennale war ja die Beobachtung, dass ein großer Teil der Architekturgeschichte des Globalen Südens mit dem Ende der Kolonialherrschaft verstreut und zerstückelt worden ist. Wie kann denn Architektur Zeugenschaft über dieses Trauma ablegen?
Jüngere Beispiele für Traumata und Architektur sind auch die Explosion in Beirut im vergangenen Sommer, oder die Zerstörung von Aleppo im Syrischen Bürgerkrieg. Für die Biennale haben wir erst einmal die Architektur vor Ort in Schardscha studiert. Viel davon wurden von Firmen außerhalb des Emirats entworfen – Europa, Nordamerika – und ist heute vom Abriss bedroht. Wir konnten eine Markthalle umnutzen und so erhalten. Und wir haben Schulgebäude bewohnbar gemacht, die sonst auch abgerissen worden wären. Das Thema Trauma und Zerstörung ist sehr vielfältig.
Der Titel ihrer Triennale war “The Rights of Future Generations”. Jetzt sprechen Sie bei einer Konferenz mit dem Titel “Unravelling the Present”. Finden Sie, dass es im vergangenen Jahr schwer geworden ist, über die Zukunft nachzudenken?
Wenn man über die Zukunft spricht, geht es immer auch um die Gegenwart. Ich habe das Thema damals gewählt, weil ich an sein politisches Potenzial glaubte. Es ging auch um internationales Umweltrecht. Wir wissen ja, dass unser Planet zerstört wird und wir ihn in einem üblen Zustand hinterlassen. Daher die Frage: Sollen unsere Nachkommen Rechte in der Gegenwart haben? Und wie kann man diese sicherstellen? Irgendwie ist das natürlich klar, denn es geht darum, die Überlebensfähigkeit kommender Generationen sicherzustellen. Andererseits gibt es weltweit eine ontologische Vielfalt, wenn man über die Zukunft nachdenkt: Manche Kulturen kennen keine Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft, denn die Ahnen sind immer präsent. In anderen liegt die Zukunft hinter den Menschen, weil man sie eben nicht sehen kann, während die Vergangenheit vor ihnen ausgebreitet ist.
Vor etwa drei Jahren war eine große Videorbeit von Ihnen in einer Ausstellung in London zu sehen. Die Ausstellung hieß “The Future Starts Here”, die Arbeit hieß “Climate Crimes”. Da ging es ja auch um Gerechtigkeit, nicht nur gegenüber der Zukunft, sondern auch global. Wie hängen denn Klimawandel und Kolonialismus zusammen?
Die Arbeit entstand aus meiner Forschung zum Thema Maßstab. Das bin ich von einer städteplanerischen Perspektive angegangen: Wie denkt man über so etwas kompliziertes wie eine Stadt nach? Ich stellte fest, dass das Weltklima ebenso groß und komplex ist, mit verschiedenen zeitlichen Ebenen und unterschiedlichen Schauplätzen. Der Aerosol-Ausstoß auf der nördlichen Halbkugel führt zu Temperaturveränderungen im Atlantik, und der Niederschlag in der Sahelzone ist dafür sehr empfindlich. Und die zunehmende Wüstenbildung dort führt zur Migration von Menschen Richtung Europa.
Wie kommt da Kolonialismus ins Spiel?
Man kann beim Klimawandel nicht mehr nur über globale Durchschnittswerte reden. “Wir sitzen alle im selben Boot” – das unschuldige Wir reicht nicht mehr. Bei der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 wurde erstmals deutlich, dass der Himmel aufgeteilt wird: Die reichen Nationen können sich Emissionsrechte kaufen und ihren gewohnten kapitalistischen Lebenswandel weiterführen. Auf der anderen Seite hat das reale Konsequenzen für das Leben und Sterben von Menschen. Es erinnert an den Wettlauf um Afrika, als die Kolonialmächte Ende des 19. Jahrhunderts den Kontinent unter sich aufteilten.
Das Schlimme daran ist ja, dass wieder die gleichen Regionen die Leidtragenden sind.
Und diejenigen mit der geringsten Schuld am Klimawandel sind die ersten, die unter den Konsequenzen zu leiden haben.
Aber hat das noch mit Architektur zu tun?
Die Installation in London war sehr architektonisch: eine große Kuppel, die an Kirchen erinnert, mit einer Videoprojektion, die an Renaissance-Fresken denken lässt. Die haben in der christlichen Tradition ja auch eine kosmologische Bedeutung. Ich habe mich gefragt, ob ich für den Klimawandel eine ähnlich umfassende Verbildlichung finden kann.
Die Videoarbeit in London hat mich formal, aber auch im Umfang der Recherche an die Projekte von Forensic Architecture erinnert. Mit dem aktivistischen Recherchekollektiv haben Sie ja auch zusammengearbeitet. Das alles findet irgendwie unter dem Begriff Architektur statt, hat aber wenig mit traditionellen Definitionen von Bauen und Städteplanung zu tun. Wo sehen Sie denn die Verantwortungsbereiche von Architektinnen und Architekten?
Meine Arbeitsdefinition von Architektur umfasst all das, womit Gesellschaften ihre Haltung gegenüber der Umwelt materialisieren. Das kann ein Gebäude sein, muss es aber nicht. Die meisten Mitglieder bei Forensic Architecture haben auch einen Bezug zur Architektur. Dabei geht es aber um die Analyse und nicht das Entwerfen von Bauten. Ich denke aber, dass ihre Arbeit Bahnbrechendes für die Menschenrechte leistet und auf ausgefeilte Art Geschichten erzählen kann.
Wir haben jetzt viel über Zukunft gesprochen. Aber nochmal konkret: Wie werden sich Städte und die gebaute Welt nach der Corona-Pandemie verändern?
Ich denke, es wird zu einer viel umfassenderen Überwachung von Bürger*innen durch große Konzerne kommen, und das wird viel leichter akzeptiert werden.
Naja, ich finde die Überwachung von Covid-Übertragungen funktioniert beispielsweise nicht so gut. Da bin ich ein wenig enttäuscht.
Haha, das stimmt. Es stellen sich aber auch ganz andere Fragen, zum Beispiel: Lebe ich am Arbeitsplatz oder arbeite ich von Zuhause? Das finde ich gerade schwer zu beantworten. Ich würde sagen, dass wir gerade die größte Wandlung in Wohnräumen seit einem Jahrhundert erleben.