Insta-Watchlist mit Vitali Gelwich

"Perspektive, Talent und Kreativität können trainiert werden"

In der Rubrik Insta-Watchlist stellen wir Kreative vor, denen es auf Instagram zu folgen lohnt: Der Fotograf Vitali Gelwich hatte schon viele Stars der Modewelt vor der Kamera. Sein größter Einfluss bleibt jedoch die Kunst

Der Instagram-Feed von Vitali Gelwich hat eine minimalistische Ästhetik. Zu sehen sind Models in oft verwirrender, nicht zuzuordnender Pose. Ein stilles Narrativ eines scheinbar geordneten Chaos. Diese kalte, fast unnahbare Aura, in der Mienenspiel und elektrisierende Blicke im Zentrum stehen, zieht sich durch viele der Modefotografien von Vitali Gelwich. Zu seinen Kunden gehören neben bekannten Magazinen wie "Vogue" auch Modehäuser wie Loewe, Ami und die Marke Skims von Kim Kardashian. Wer jedoch denkt, der Berliner Fotograf könne nur Glanz und Glamour, irrt. Abseits seiner Modearbeiten gibt er in Stillleben und Performances eine verletzlichere Seite preis, die basierend auf präziser Beobachtung seiner Umwelt zutiefst persönlich und ironisch ist. Er erzählt von Niederlagen, Scham und einer unretouchierten Welt, die der Fotograf als wichtige Inspirationsquelle und Werkzeug zur persönlichen Weiterentwicklung sieht.

Er selbst zeigt sich nur ungern, kein einziges Bild findet man von ihm auf seinem Instagram-Account. Für sein erstes großes Interview hat der international erfolgreiche Fotograf die Türen seines Studios in Marzahn geöffnet. Wir sprachen mit dem 34-Jährigen über das kreative Potenzial in Berlin, welche Künstlerinnen und Künstler er in seinen Fotos neu interpretiert und warum ihn seine Kindheit bis heute prägt.

 

Vitali Gelwich, Sie haben nicht nur ein Studio in Berlin, sondern auch eines in Paris. Wie unterscheiden sich diese beiden Städte im Hinblick auf Mode?

Paris ist viel wettbewerbsintensiver, viel dichter. Das Niveau der Professionalität und des Fachwissens ist einfach einzigartig, anders kann man es nicht sagen. Kreative Entscheidungen werden zehnmal schneller getroffen als in Berlin. Kulturell ist die Stadt viel breiter aufgestellt als Berlin, was spannend und informativ ist. Es mag seltsam klingen, aber ich weiß die Ruhe Berlins zu schätzen, wenn ich hierher zurückkomme.

Sie würden sich also nicht entscheiden wollen?

Berlin ist Berlin, Paris ist Paris, und wenn man wachsen will, muss man manchmal einfach woanders hingehen. Man muss dort sein, wo die Arbeit ist, die man machen will. Niemand kommt zu dir, du gehst hin und holst sie dir, und das wurde mir wirklich klar, als ich anfing, mehr im Ausland zu arbeiten. Das hat die Dinge sehr schnell verändert. Die ganze Welt wird zu meinem Zuhause, und das macht Berlin auf eine neue Art zu meinem Zuhause.

Haben beide Städte Einfluss auf Ihre Arbeit? 

Ehrlich gesagt ist mein Arbeitsablauf überall auf der Welt ziemlich gleich. Der einzige Unterschied besteht darin, dass wir letztendlich jedes Projekt – egal ob global oder national – in Berlin fertigstellen. Meistens. In gewisser Weise ist das ein romantisches Format für meine Arbeit. Wir bringen ein gewisses Maß an Kreativität zurück nach Berlin, ohne dass es jemand merkt oder sieht. Einfach für mein Wohlbefinden. Man könnte es auch anders machen. Es wäre vielleicht sogar einfacher, es anders zu machen. Aber für mich ist es der beste Weg. Momentan.

In Berlin ist gerade Fashion Week. Ist die Stadt relevant für die internationale Modewelt?

Ich denke, dass sich Berlin insgesamt in einer Phase der Wiederentdeckung befindet. Es gibt Talente hier, es gibt Potenzial, aber wenn man es mit Paris oder New York vergleicht, sieht man nicht die gleiche Stärke in der Identität oder Infrastruktur rund um die Branche. Berlin ist ein Ort, an dem sich viele internationale Gemeinschaften und Ideen treffen. Oft verstecken, kurzzeitig untertauchen. Gesuchte Anonymität. Es ist eine flüchtige Stadt. Die Menschen kommen und gehen. Ich bin gespannt, wie sich die Mode in Berlin in den nächsten Jahren entwickeln wird. Zeit und Verfeinerung können viel bewirken. Ich freue mich immer noch darüber, dass die Leute tolle Sachen machen und Berlin einen starken Einfluss hat. Man sieht Marken wie Ottolinger, 032c und GmBH, die einen internationalen Einfluss haben. Von diesen Marken gibt es nicht viele in Berlin. Es ist wichtig, ein internationales Publikum zu berücksichtigen – so, wie sie es tun. Und nicht isoliert zu bleiben.

Sie arbeiten hauptsächlich im High-Fashion-Bereich. Was fasziniert Sie daran?

Da ich in einfachen Verhältnissen aufgewachsen bin, in denen es weder Kunst noch Mode in diesem Umfang gab, fand ich die Herausforderung, mich in eine für mich neue Welt zu stürzen, sehr interessant. Ich habe erkannt, dass Perspektive, Talent und Kreativität trainiert werden können. Ich habe mich in diesem Bereich weitergebildet und schließlich eine große Liebe für die Modeindustrie entwickelt. Meistens zumindest.

Ich habe den Eindruck, Ihre Kindheit war anders als die meisten Biografien in der Kreativszene. Hat die Art, wie Sie aufgewachsen sind, Sie auf den Wettstreit in der Modewelt vorbereitet?

Es hat mich mit einem Sinn für Widerstandsfähigkeit und Bodenständigkeit geprägt. Mein Aufwachsen war voller normaler Herausforderungen, die mich allmählich auf jeden neuen Schritt im Leben vorbereiteten. Jedes Jahr, das ich mit dem Fotografieren verbracht hatte, brachte Veränderungen und Entwicklungen mit sich. Ich liebe Herausforderungen, und ich mag es, wenn es schwierig wird. Wenn man bedenkt, wie ich aufgewachsen bin, war das Leben immer kompliziert. Aber das war normal. Es war in Ordnung. Man lernt, die Dinge zu schätzen, und man lernt, was Verantwortung bedeutet.

Wie zum Beispiel?

Ich war noch sehr jung, als wir unsere Sozialwohnung verließen. Diese Phase betraf vor allem meine Mutter – sie musste stark sein, die Dinge zum Laufen bringen. Ich glaube, das hat mich in den nächsten 18 Jahren indirekt beeinflusst. Sie hat uns allein großgezogen, was mit einigen Schwierigkeiten verbunden war. Das hatte einen Einfluss. Ich glaube, nur ihr habe ich zu verdanken, dass ich heutzutage etwas Brauchbares mache.

Es existiert das Vorurteil, dass die Modewelt oberflächlich und schnelllebig ist. Versuchen Sie dem mit Ihrer Arbeit entgegenzuwirken?

Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. In jedem Bereich gibt es Annahmen. Es ist wichtig, sich davon nicht beeinflussen zu lassen. Diese Gedanken passieren sowieso. Sich Gedanken darüber zu machen, wie die Leute deine Arbeit sehen werden, ist im Allgemeinen nicht hilfreich und lenkt ab. Wir leben in einer oberflächlichen Welt, jedoch kommt es auf die Menschen an, mit denen man sich umgibt. Meine Arbeit versucht, Schnelllebigkeit entgegenzuwirken, alles um mich herum festzuhalten und zu verlangsamen. Es ist eh schon alles viel zu schnell. Auf Dauer macht uns das kaputt. 

Sie haben mit vielen Weltstars zusammengearbeitet. Gab es eine Person, die Ihnen besonders positiv in Erinnerung geblieben ist? 

Alle Menschen, die ich fotografiere, sind Stars für mich. Anders kann ich nicht ernst nehmen, was ich mache.

Sie haben das Ballet National de Marseille für das Lifestyle-Magazin "Face" fotografiert. Wie übertragen Sie die elektrisierende Spannung einer Ballettaufführung in eine Fotografie?

Wenn ich an ein Projekt herangehe, lasse ich Raum für Interpretationen und Reaktionen – meine persönliche Art, zu erforschen und zu spielen. Wir sollten jedoch nicht vergessen, woher meine Inspiration zu 95 Prozent kommt: Kunst. Die reale Welt. Alles wird verdaut und kommt am Set heraus. Manchmal lasse ich meine Freunde die Interpretationen übernehmen. Ich habe einem meiner besten Freunde, Marius Wilms von Société, einige Bilder vom La-Horde-Shooting gezeigt, und er hat mir Vergleiche zu Géricault, Cézanne und Matisse geliefert. Sogar bei kommerziellen Aufträgen ertappe ich mich dabei, dass ich instinktiv auf Kunst zurückgreife. Als ich zum Beispiel meine erste Kampagne mit Magda Butrym fotografierte, bemerkte ich später, dass ich Aufnahmen komponiert hatte, die sich auf Marina Abramović bezogen, die eine Rose hält. Wir haben ein Shooting für das "CR Fashion Book" gemacht, bei dem ich mich direkt auf die Dokumentation von Joseph Beuys bezogen habe.

In Ihrer jüngsten Gruppenausstellung war die Videoinstallation "With nothing, you see me" im Kühlhaus Berlin zu sehen. Darin prangern Sie das Verharren in der eigenen Komfortzone als Stagnation an und ermutigen Menschen, aus den Gefühlen zu lernen, die entstehen, wenn sie Angst oder Scham haben. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?

In gewisser Weise ist es ein Experiment, das Unbehagen in einer geschlossenen Umgebung schafft. Ein Spielplatz und ein Experimentierfeld für menschliches Verhalten und Reaktionen auf veränderte Normen und Regeln. Ich persönlich lerne am meisten aus Unbehagen. Ich denke, in einem abstrakten Sinne spiegelt die Arbeit wider, wie ich Regeln innerhalb eines sozialen Spektrums breche und sehe, wie weit ich es treiben kann. Wir leben nach von Menschen aufgestellten Regeln. Wer sagt uns, dass das richtig ist? Nur die Gesellschaft. Nur andere Menschen. Die Gesellschaft hat bestimmte eingebaute Werte, die sie dem Einzelnen auferlegt, und das ist eigentlich sehr irreführend. Sie kann uns davon abhalten, ein erfülltes Leben zu führen. Angst und Unbehagen sind ganz gut.



Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit als Regisseur von Ihrer Arbeit als Fotograf?

Es gibt keinen wirklichen Unterschied. Alles, was ich mache, ist dasselbe. Egal ob Kunst, kommerzielle Arbeit oder Film.

Was macht ein gutes Foto für Sie aus?

Keine Regeln. Keine Grenzen. Es muss dich einfach treffen. Es gibt eine Million richtige, Billionen falsche Wege.

Wer sind Ihre Vorbilder?

Meine Mutter. Immer.