Seit 2006 hat der Künstler Ingolf Ebeling mehr als 42.000 Postkarten gemalt. Sie sind adressiert an eine Liebe, die er nie getroffen hat, und an ein Leben, das er nie leben konnte
Ingolf Ebelings Wohnung in der Hannovers Südstadt ist minimal eingerichtet, manche würden sie pragmatisch nennen, andere vielleicht karg. Im Wohnzimmer steht nur ein Tisch in der Mitte des Raums, der wahlweise als Zeichentisch oder als Esstisch genutzt werden kann. An der einen Wand gibt es einen Bücherschrank, in der Ecke steht ein Stapel Pappkartons. Wandbilder, ein Sofa oder ein bequemer Sessel, Zimmerpflanzen oder Elektrogeräte zur Unterhaltung fehlen völlig.
An diesem Tisch verbringt Ebeling, ein End-50er mit Viertagebart und einem sanften Leuchten im Blick, seine Tage. Exakt fünfmal 40 Minuten um genau zu sein, dazwischen je 20 Minuten Pause, unterbrochen von einer einstündigen Mittagspause. In diesen 40 Minuten Intervallen produziert er zwischen einer und 20 mit Buntstiften bemalte Postkarten pro Tag. Das Ergebnis ist in den Kartons an der Wand gestapelt. Mehr als 42.000 sind es seit 2006.
2006, im Mai genau gesagt, hat Ebeling sein Magnum Opus angefangen, sein Lebensprojekt. Er nennt es "Sonnenstrahlenmillionär" und es ist genau das, wonach es sich anhört. Ebeling wollte damit sich selbst und die Welt reich machen, an Licht, an Wärme. Er schenkte sich jeden Tag Sonnenstrahlen, so lange bis die Million voll war. Am 26. April 2021 war es so weit, ziemlich genau 15 Jahre nachdem er begonnen hatte, etwa fünf Jahre später, als geplant. Seitdem hat er mit einer neuen Serie angefangen, betitelt: "Die Zwölf Apostel", die jetzt seinem Leben Sinn und Struktur geben.
Postkartenarbeit als Überlebensstrategie
Es ist eine monastische, spirituelle künstlerische Praxis, die Ingolf Ebeling sich mit seinen Postkarten zu eigen gemacht hat, eine, welche die Grenze zwischen Kunst und Leben vollkommen aufhebt. Wie in Werken von Hanne Darboven oder On Kawara bildet das ausufernde Werk nicht nur Zeit ab, sondern kreiert seine eigene Zeit.
Die schier endlose serielle Postkartenarbeit ist für Ingolf Ebeling eine Lebensstrategie geworden. Am Anfang war es jedoch wortwörtlich eine Überlebensstrategie. Ingolf Ebeling entwickelte im jungen Erwachsenenalter eine schwere psychotische Störung. Sie hinderte ihn daran, sein Medizinstudium abzuschließen oder irgendeinen anderen bürgerlichen Beruf auszuüben. In den Phasen, in denen die Psychose nicht völlig von ihm Besitz ergriff und ihn immer wieder auch an den Rand von Suizidwünschen trieb, half ihm der künstlerische Ausdruck. Er begann Gedichte und Geschichten für Freunde zu schreiben und sie zu illustrieren, viele von großem Wortwitz und einem ganz eigenen Humor geprägt. Einige der Arbeiten glitten ins Dada, Ebeling war, wie in seiner späteren Arbeit, völlig unbelastet von formaler kunstakademischer Bildung, bei zentralen künstlerischen Ideen des 20. Jahrhunderts gelandet.
Das Sonnenstrahlenprojekt entstand aus einer Liebe, die mit einem Zeitungsausschnitt begann. Der Artikel in der Lokalzeitung im Emsland, wo Ebeling damals noch lebte, handelte von einer Schwimmerin, deren Abbild bei Ebeling, der selbst in der Jugend Leistungsschwimmer war, etwas Tiefes auslöste. Ebeling schrieb das Mädchen, seine Sina, es entwickelte sich eine 15 Jahre lange Brieffreundschaft. Bis heute haben die beiden sich nie gesehen.
Die Liebe lebt in den Postkarten
Ebeling, der wegen seiner Erkrankung nie eine Liebesbeziehung leben konnte, kanalisierte seine Gefühle in die Kunst. Auch in dieser Hinsicht verschmelzen bei ihm Kunst und Leben. Die Liebe lebt in den Postkarten, sie sind diese Liebe.
Der Ausdruck dieser Liebe ist jedoch alles andere als naiv. Ebeling arbeitet, anders als man das vielleicht von einem "Outsider" erwarten würde, hoch konzeptionell. Er versteht sich mitnichten als jemand der Therapiekunst macht, sondern als professioneller Künstler. "Das ist mein Beruf", sagt er, eine Tatsache, die mit Residenzen am Museum Gugging in Wien und mehreren Ausstellungen am Haus der Künstler dort validiert wurde. Das Haus gilt als eines der wichtigsten Zentren für „Art Brut“ weltweit, Künstler wie Martin Ramirez und Adolf Wölfli haben dort gearbeitet und ausgestellt.
Jede Karte ist mit einer vierkantigen "Sonne" bedacht, um die herum zwischen einem und einem Dutzend Sonnenstrahlen angeordnet sind. Dabei gleicht sich bei den 42.607 Karten nicht ein einziges Mal die Anordnung der Strahlen. Ebeling ließ von einem Algorithmus die Verteilung berechnen, um jegliche Doppelung zu vermeiden.
Blitze von Ebelings origineller und witziger Fantasiewelt
Auch der Rest der Karten besitzt bestimmte konstante Elemente, wie die Ansprache an seine Sina, die stets lautet, "Liebe Sina, gerade jetzt …". Signiert sind sie sämtlich mit D.T, (Dein Träumer) und dem Datum. Der Rest der Karten ist jedoch variabel gestaltet, mit kleinen abstrakten Farbstiftzeichnungen, zumeist in Gelb gehalten und einem Adressfeld, in das Ebeling zum Teil erfundene aber wohlklingende Ortsnamen einträgt. Sie sind Platzhalter für die Privatadresse von Sina und heißen beispielsweise "Cafe Alltagsglück in Aglasterhausen". Es sind kleine Blitze von Ebelings zutiefst origineller und witziger Fantasiewelt, die auch immer wieder im Gespräch mit ihm durchscheint und es zum Vergnügen machen.
All das hat im Kontrast zu dem streng formalen Rahmen eine überaus spielerische Qualität. Es ist genau die Dialektik, die das gesamte Projekt trägt. Der Algorithmus, der zur Kunst wird, die Kunst, die durch den Algorithmus und die Serie eine transzendentale Dimension erhält.
In seinem neuen Projekt hat sich Ebeling seiner Sina ab und der Religion zu gewandt. Er malt nun Kreuze auf Postkarten, mit zwei Sets à 20 Farbstiften. Das Projekt ist dann zu Ende, wenn er alle Farbkombinationen erschöpft hat. Es ist wieder eine Arbeit der Liebe, diesmal nicht zu einer Frau, sondern "zum Leben und zum Sein in Ewigkeit", wie er sagt. Und wieder sind die Abbildung der Liebe und die Liebe selbst unmöglich voneinander zu trennen.
Lebbarer Umgang mit schwerem Schicksal
Seinen Takt bei der Produktion der Karten hat Ingolf Ebeling etwas zurück fahren müssen. Die Einnahme starker Psychopharmaka über viele Jahre fordert ihren Tribut, es fällt ihm immer schwerer seine zitternde Hand beim Zeichen ruhig zu bekommen. Er weiß, dass seine körperliche Situation gewiss nicht besser wird und doch wirkt er so, als ruhe er in sich.
Man möchte sagen, er hat es geschafft, die Kunst dazu zu nutzen, mit einem schweren Schicksal einen lebbaren Umgang zu finden. Aber das klänge zu einseitig, zu sehr nach Kunst als Therapie. Das würde seiner Kunst jedoch nicht gerecht, denn es ist nicht nur er, der von der Kunst profitiert, es ist eben so sehr umgekehrt. Ebelings Weg bringt der Kunst etwas vollkommen eigenes, einzigartiges, das sie um ein Vielfaches bereichert.