Nach über einem Jahr Corona-Pandemie hat sich ein Kanon von Erzählungen aus der Kulturgeschichte gebildet, auf die immer wieder verlässlich verwiesen wird: apokalyptische Seuchen-Thriller, Camus' "Die Pest", Bocaccios "Decamerone" und ein "Best-of" der Verschwörungsmythen der vergangenen Jahrhunderte. Jetzt, im Frühling der voranschreitenden Impfkampagne, drängt es sich überraschenderweise auf, das Nibelungenlied mit in den Corona-Verweis-Pool aufzunehmen.
Seit einigen Wochen füllen sich die sozialen Medien mit Impfselfies ("Impfies") und verpflasterten Oberarmen. Auch das Bundesgesundheitsministerium wirbt auf Plakaten im öffentlichen Raum mit sogenannten "Impfluencern", die stolz ihren Bizeps mit Klebchen vorführen. Selbst Politikerinnen und Politiker, die sonst eher nicht dafür bekannt sind, ihre körperlichen Belange zu kommunizieren, ließen sich beim AstrazenecaBiontechModerna-Piks fotografieren. Die entblößten Oberarme von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, US-Vizepräsidentin Kamala Harris und dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu sind inzwischen ins kollektive Bildgedächtnis eingegangen.
Was das nun mit germanischen Sagen zu tun hat? All diese Fotos muten wie eine umgedrehte Version von Siegfrieds Bad im Drachenblut an. Der furchtlose Schuppentiertöter will sich dadurch unverwundbar machen, allerdings legt sich ungünstigerweise beim Eintauchen ein Lindenblatt zwischen seine Schulterblätter und lässt eine unbenetzte, verletzliche Stelle zurück. Gerade dort wird er schließlich von seinem Rivalen Hagen tödlich mit einer Lanze getroffen.
Die Einstichstelle einer Corona-Impfung ist sozusagen das Gegenteil der Lindenblatt-Region. Von einem winzigen Ausgangspunkt verbreitet sich das zeitgenössische Pharma-Drachenblut im ganzen Körper und macht gefühlt unverwundbar. Das Pflaster, sonst eher Zeichen einer Verletzung, also einer Schwächung, wird so zum Superheldenabzeichen (schade eigentlich, dass es in den Impfzentren und Praxen eher selten Star-Wars-, Dinosaurier- oder Nibelungen-Pflaster gibt). "Zeige deine Wunde", wie der Schmerzensmann Joseph Beuys einst eine Installation in München nannte, bedeutet im Kontext der Impfungen eben nicht das Eingeständnis von Verletzlichkeit, sondern ein visuelles Zeugnis der Stärke. Wer sein Pflaster mit dem Blutströpfchen aufhebt, schafft sich in gewissem Sinne eine eigene Blutreliquie.
Die Impf-Fotos kann man höchst unterschiedlich interpretieren, je nachdem wie man zur Impfpriorisierung, "Impfdränglern" oder der Impfung allgemein steht. Es können Zeugnisse der puren Freude und Erleichterung nach dem entbehrungsreichen Pandemiejahr sein, eine Pflaster-Party sozusagen, aber auch eine Art von Statussymbol, das wie alle Bilder am eindrucksvollsten wirkt, wenn es exklusiv ist - und eben noch nicht alle Menschen die Chance auf einen Anti-Covid-Shot haben. Global gesehen sind Impf-Selfies auch eine Veranschaulichung von "First-World-Privilegien", da vor allem ärmere Länder unter massivem Serum-Mangel leiden.
In einer polarisierten deutschen Öffentlichkeit ist das persönliche Impf-Foto außerdem unweigerlich ein politisches Bekenntnis. Man reiht sich in den Club der Impfbefürworterinnen und -befürworter ein – mit Pflaster als Mitgliedsausweis. Die Abgebildeten können als Vorbilder gelesen werden (und sollen es in der offiziellen Impfkampagne der Regierung auch sein). Für Personen, die die Impfung ablehnen, muss das öffentliche Immunisieren dagegen als Provokation gelesen werden. Wo man vor einem Jahr wohl noch von den wenigsten wusste, wogegen sie denn so alles geimpft sind, ist die individuelle Haltung zu Corona-Vakzinen heute von größtem gesellschaftlichen Interesse.
Wie Oliver Basciano in der Zeitschrift "Art Review" anmerkt, ist das allgegenwärtige Impf-Fotoshooting das Ende einer visuellen Dürre während der Pandemie. Das Erkranken, das Leiden, das Sterben fand für den Großteil der Menschen unsichtbar hinter verschlossenen Türen statt. Die Bilder, die es gab, waren eher abstrakt und dystopisch: vermummte Pflegekräfte, Fragmente von verkabelten Körpern in Intensivbetten, gestapelte Särge. Die Impffotos sind lang erwartete gute Nachrichten, an persönliche Geschichten geknüpft und eine Veranschaulichung von täglich auf uns einstürzenden Daten und Fakten. Mit der Spritze in den Oberarm erreicht die Pandemie-Politik buchstäblich den eigenen Leib, geht in Fleisch und Blut über.
Auf die Bilder folgen natürlich viele Fragen nach dem Umgang mit Geimpften, Ausweisen und dem immer noch diffusen "Neuen Normal" nach der Pandemie. Doch gerade setzen sich die einzelnen Pflaster- und Spritzen-Schnappschüsse zu einem Bildmosaik der Erwartung zusammen, das Historikerinnen vielleicht einmal als symptomatisch für den Frühling 2021 einstufen werden. Die Gemälde zu den ersten Impfungen im 18. Jahrhundert sind inzwischen jedenfalls fester Bestandteil der Kunstgeschichte.