Yilmaz Dziewior liest "Die Toten"

Im Schrank von Christian Kracht

© Frauke Finsterwalder 2016
© Frauke Finsterwalder 2016

Christian Kracht

Zuerst mein Outing: Ich bin vorbehaltsloser Christian-Kracht-Fan. Deshalb zögerte ich nicht lange, als Monopol in einer Randbemerkung feststellte, ich könne doch Krachts neuen Roman "Die Toten" besprechen, um endlich mal wieder meinen schlummernden Jubiläumsblog zu aktivieren. Dieses Unternehmen fing zwar etwas holprig an, da der Verlag das Buch erst rausrücken wollte, als "FAZ", "FAS" und "Süddeutsche" schon längst mit Berichten hierzu glänzen durften. Und klar war, dass der "deutsche Fernsehstar der Literaturkritik" Denis Scheck, noch früher den Roman gelesen hatte, um den Autor in Los Angeles zu besuchen. Dort plauderte er dann vor dem offiziellen Erscheinen des Textes wieder einmal genüsslich, sehr unterhaltsam und wohlwollend mit dem Schweizer Autor.

 

Nun, was soll man all den ausführlichen Artikeln und Gesprächen noch hinzufügen? Ich dachte mir, es könnte unterhaltsam sein (zumindest für mich), einen Blick in den Kleiderschrank von Christian Kracht zu werfen. Dass der Autor auf ausgesuchte Garderobe großen Wert legt, lässt sich sowohl im oben erwähnten Gespräch mit Denis Scheck erkennen, in dem Kracht wie immer tadellos und ein wenig dandyhaft gekleidet bei gleißendem Sonnenschein vorbildhaft Contenance bewahrt. Und auch in meinem Lieblingsinterview mit dem an herausragenden Fernsehgesprächen nicht eben armen Harald Schmidt kommt gegen Ende (zeitlose) Mode ins Spiel.

 

 

Denn hier erfährt man von der Vorliebe Krachts für Berluti-Schuhe, die er für die besten Schuhe der Welt hält. Er selbst trägt zwar an diesem Abend eine andere Marke, aber dass der Autor durchaus Sinn für Selbstinszenierung hat, belegen die vielen Porträtfotos, die ihn ganz comme il faut gekleidet oder gleich provokant konservativ im Trachtenjanker abbilden.

Die Künstlerin Yoko Ono 2009 bei der Eröffnung der Ausstellung "Nochnichtmehr" in die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin

 

Man braucht nicht gleich ins 19. Jahrhundert zum Schweizer Dichter Gottfried Keller und seiner Novelle "Kleider machen Leute" zurückzugehen, um den äußeren Look als soziales Mittel von Kommunikation zu begreifen. Besonders schön hatte mir dies Isabelle Graw 1999 im Katalog zur Ausstellung "German Open" gezeigt, als sie sich der Arbeit von Cosima von Bonin über eine Interpretation der Kleidung, die diese trug, näherte. Ich sehe noch genau vor mir, wie sich die Kritikerin in diesem Text an ihre erste Begegnung mit der Künstlerin als Kellnerin im legendären Königswasser und deren Jean-Seberg-Look erinnert.

Ich würde mich auch gerne an meine erste Begegnung mit Christian Kracht erinnern, aber irgendwie gelingt mir das nicht so recht. Kleidung spielte aber auf jeden Fall eine Rolle. So denke ich noch heute gerne zurück an meine damaligen Feindbilder, die bei ihm im "Faserland" zuhauf zu finden waren: Jacketts von Davies & Sons oder Hemden von Brooks Brothers und natürlich vor allem die für Kracht zu diesem Zeitpunkt obligatorischen Barbourjacken. Allein der Titel "Faserland" gibt ja schon zu verstehen, dass hier Fasern, also Stoffe und Klamotten ziemlich wichtige Protagonisten sind. Aber Hand aufs Herz, denken wir an "Faserland", dann denken wir doch alle in erster Linie an den Dreier, das schwarze weibliche Modell und die schwulen Burschenschaftler. Oder?

Und was habe ich mir von "Die Toten", dem neuen Buch von Kracht gemerkt? Zum Beispiel, dass es schon gleich zu Beginn so regnet, dass, "kein Hut, kein Mantel, kein Kimono, keine Uniform saß." (S.11) Und ich erinnere, dass der "junge, gutaussehende Offizier" Harakiri begeht und dabei ausgerechnet die schönen japanischen Bildrollen mit seinem Blut bespritzt wie Jackson Pollock die Leinwand. Und auch die "nur am Rand ganz leicht beharrte, schmale Hand", des Vaters, die "den kleinen Emil mit der unbestimmten, stummen, fast sexuellen Sehnsucht" erfüllt (S.18), hat sich mir als Bild nachhaltig eingeprägt. Zumal wir ein paar Seiten später erfahren, dass Emil Nägeli der festen Überzeugung war, dass "sein Vater ... der Männerliebe nicht abgeneigt gewesen" war (S.33). Eine weitere, nicht gerade humorlose Stelle, die auf ein Leben im Schrank deutet, entfaltet Kracht zwischen Lehrer und Schüler: "Solf zog es vor, den Umstand zu ignorieren, dass der dem Federball hinterherhechtende Lehrer Kikuchi ganz offensichtlich verliebt war, notierte statt dessen die Präzision der Umgarnung, derer sich Masahiko bediente, um den weißhaarigen Mann sozusagen beseelt bei der Stange zu halten ... Die elastische Choreographie war ein Meisterwerk der Manipulation; hielt sich der Lehrer etwas zurück, so streifte der Junge, gab er den Federball zurück, mit dem Arm sein Gegenüber; wurde zur Attacke übergegangen, so ließ er sich rücklings fallen und zog den keuchenden Kikuchi mit sich hinab ins seidige Grasbett" (S. 68) Diese wie andere Szenerien erinnern mich an Bilder von Lukas Duwenhögger oder Kai Althoff, wenn beispielsweise auf Seite 150 zu lesen ist: "Das Sonnenlicht ist weich und die Straßen belebt; modisch gekleidete Jünglinge (dort nachlässig gebundene, bunt gestreifte Fliegen, hier bonbonfarbene Strickpullover, weiße, weite Knickerbocker) umlungern die Eisdiele ..."

Und wenn sich der Protagonist Emil Nägeli den Kopf kahl rasieren lässt, um ihn mit einer dunkelbraunen Perücke zu versehen und sich danach noch zu allem Überfluss vom selben Frisör die Augenbrauen mit schwarzem Stift nachziehen und die Wangen pudern lässt (S. 156/7), dann sind wir vollends bei Gustav von Aschenbach und dessen Verschönerungsversuchen kurz vor seinem Tod in Venedig angelangt. Hoffentlich gebe ich nicht zuviel preis, wenn ich durchblicken lasse, dass Kracht jedoch Nägeli nie wirklich vom geraden Weg abkommen lässt, selbst dann nicht, als er in der mit einem St.-Sebastian-Poster von Guido Reni dekorierten Wohnung eines Literaten sitzt und von ihm den Rücken massiert bekommt (S.182).

Alle anderen kommen dagegen ganz gehörig von dem einmal eingeschlagenen Weg ab. Denn weder helfen dem erwähnten Schüler Masahiko Amakusa seine erotisch und machthungrigen Strategien, noch ist es von Vorteil, dass Ida, eine der Protagonisten des Romans, zu lange ihrem "Fliegerlook" anhängt, der leider schon länger in Hollywood als allzu "passé" angesehen wurde (S. 201).

Was hat das mit dem Museum Ludwig zu tun? Sehr viel, denn wir haben quasi zeitgleich mit dem Erscheinen von "Die Toten" unsere Ausstellung von Karl Schenker eröffnet, in der es ebenso wie in dem Roman von Kracht um ganz großes Kino geht. Beides – Roman und Ausstellung – drehen sich um die Schauspielerei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und selbst das in der Ausstellung angerissene Thema der Selbstoptimierung durch Schönheitsoperationen kommt im Buch von Kracht zur Sprache, als der "kühlen nordischen" Ida die plastische Chirurgie nahegelegt wird, um sich eventuell mehr in den gerade aktuellen Typ "rassige Südamerikanerin" zu verwandeln (S. 203).

Ähnlich wie "Die Toten" so handelt auch die Ausstellung von Karl Schenker, der als Studiofotograf die High Society in manierierten Posen und eleganten Kleider inszenierte von dem morbiden Charme der Bourgeoisie. Und ähnlich wie Emil Nägeli sich nicht davor scheut, bei der Attraktivität des eigenen Antlitz ein wenig mit Kosmetik nachhelfen zu lassen, so spielt auch Schenker famos auf der Klaviatur der Retusche und verpasst, wenn es sein muss, seinem nackten Modell schon einmal einen Pelz, indem er flauschig feine Kratzer in die Oberfläche des Negativs ritzt.

Während aber Karl Schenker immer ein (zwar faszinierender) Vertreter der angewandten Zunft bleibt, ist der neue Roman von Christian Kracht mal wieder eine Glanzleistung des Autors und ein Beweis für wirklich GROSSE KUNST! Deshalb: unbedingt lesen!

Entwurf für den Umbau des Büroturms der Union Investment, geplant vom Architekten Ole Scheeren

Johanna Diehl "LOVAG XII (Prototype/Forêt)", 2013, aus der Serie "Eurotopians"