Die Kasseler Innenstadt ist wirklich sehr grau und sehr zugig an diesem Tag. In der Fußgängerzone das übliche Angebot: alles und nichts. Ins Auge fallen allein Zigarren-Umbach mit seiner tollen Leuchtreklame und der scheinbar gut sortierte PW Gun Shop direkt daneben. Hunter S. Thompson lässt grüßen - und Moritz Wesseler und ich grüßen zurück. Der neue Direktor des Fridericianum will Postkarten kaufen und dabei werde ich ihn begleiten. Es muss schnell gehen - Moritz hat heute viele Termine - also klettern wir in ein Taxi, das uns von seiner Wirkungsstätte, der Kasseler Kunsthalle Fridericianum, zum Schloß Wilhelmshöhe mit seiner Antiken- und Alte Meister-Sammlung bringen soll.
Man könnte es sich bestimmt einfacher machen. Eine Handvoll Ansichtskarten sollte man auch zwischen Gun Shop und Thalia Buchhandlung finden können (wahrscheinlich sogar bei Thalia). Aber natürlich: Die Wilhelmshöhe ist ein schöner Ort und Moritz mag die Wilhelmshöher Allee, die Kassels nachkriegsmoderne Innenstadt mit diesem auch sehr deutschen Ausflugsziel verbindet. Während der Fahrt zeigt er in Richtung seiner neuen Wohnung und erzählt von den berüchtigten Kasseler Waschbären, die den Bergpark okkupiert halten.
Schöne Grüße von der Wilhelmshöhe
Die letzten Meter legen wir zu Fuß zurück. Im Foyer des Schlosses atmen wir erst einmal durch - auch das machen ja Museen mit einem. Die Phase der Besinnung währt aber nur kurz, schließlich haben wir ein Ziel. Wenn auch ein niederes: Der Museumsshop liegt im Untergeschoss. Irgendwie angenehm, hier soll kein Besucher noch mal schnell durchgeschleust werden. Die Kunst und der Shop, beide wirken für sich. Unten steuert der Kunsthistoriker zielstrebig die schön ausgeleuchtete Wand mit den Postkarten an. Aber warum überhaupt Postkarten? "Ich nehme eigentlich immer welche mit. Als Erinnerung an Werke, die mir besonders gefallen haben oder um sie zu verschicken. Ich schreibe regelmäßig Ansichtskarten und Briefe - auch als Ausgleich zu dem oft sehr schnellen Austausch am Mobiltelefon". Das ist gut, denke ich. Typische SMS von Moritz sind oft sehr knapp.
Seine Postkarten wählt Moritz Wesseler mit Bedacht. In der Auswahl landen schließlich zwei Herkulesmotive, der, so scheint es, hauptsächlich von hinten fotografiert wird. Auch ein paar Alte Meister nimmt er mit. Neben zwei Rembrandts noch Pieter Claesz "Austernfrühstück": "Eines meiner Lieblingswerke hier im Museum." Das wollen wir jetzt live sehen, also wird schnell gezahlt und in den zweiten Stock gefahren. Vor dem Stillleben stehend, müssen wir beide darüber lachen, dass Moritz, ein gebürtiger Bremerhavener, Austern eigentlich gar nicht mag. Auch das gibt es also noch in der Kunstwelt.
Alte Meister mit Müslischale und Zollstock
Dann will ich mich mit ihm noch ein wenig über das Prinzip des Museumshops unterhalten. Da schwankt man ja immer zwischen Verachtung und plötzlichem Interesse. Welche Rolle erfüllt so ein Shop: einzig mögliches Profitcenter oder Teil des Gesamterlebnis Museumsbesuch? "Wenn er gut gemacht ist, dann kann ein Museumsshop als zusätzlicher Anziehungspunkt für die Besucherinnen und Besucher fungieren und sich zu einer ergänzenden Einnahmequelle für die Arbeit des Ausstellungshaues entwickeln." Was plant denn er, der neue Direktor, für das Fridericianum, wo aktuell hauptsächlich das im Zuge der letzten Documenta so gründlich gehypte Athener Kunstmagazin "South" angeboten wird? "Wir wollen für unsere Besucherinnen und Besucher ein besonderes Angebot erarbeiten. So soll es anlässlich der Ausstellungen neben Katalogen und anderen Publikationen auch Künstlereditionen geben. Der Bezug zum Fridericianum sowie zu den Künstlerinnen und Künstlern ist für mich besonders wichtig, da diese beiden Aspekte doch im Fokus unserer Aktivitäten liegen."
Das ist schon sehr diplomatisch formuliert. Und er, als Direktor eines so wichtigen Museums, muss das natürlich auch so sagen. Aber man fragt sich schon, warum es in Museumsshops nicht viel öfter richtig gute Dinge gibt. Dinge, die man tatsächlich will und die kunst- und kulturinteressierte Menschen vielleicht sogar wirklich brauchen. Schließlich bieten Museen eine der wenigen Möglichkeiten auch sonntags einkaufen zu gehen. Stattdessen: Mousepads, Scherzartikel, schlechte Bücher. Ich frage also: "Moritz, warum gibt es häufig so viel Quatsch?", und verweise auf das ein oder andere nicht der hohen Qualität der Sammlung entsprechende Angebot im hiesigen Shop. Darunter: witzige Zollstöcke und Müslischalen mit Rosendekor. "Die sind mir, ehrlich gesagt, gar nicht aufgefallen." Ungelogen: Moritz Wesseler hat, wie alle guten Kuratoren, hauptsächlich Augen für die Kunst.
Bevor es Zeit wird aufzubrechen - das Museum schließt um siebzehn Uhr und Moritz muss zurück ins Büro - versichert er mir noch, wie sehr er Kassel für die vielen Grünflächen schätzt. Außerdem könne er hier gut innehalten und mit Ruhe an Dingen arbeiten: "Das empfinde ich als große Qualität dieser Stadt." Zwei Tage später hake ich dann noch einmal nach: Ist er schon dazu gekommen, seine Postkarten zu schreiben? Ja, eine ist an eine Künstlerin nach New York gegangen. Eine weitere soll nach Mailand. An wen? Er schweigt. Und das Austernfrühstück? Auch das will er nicht verraten.
Moritz Wesseler leitete den Kölnischen Kunstverein bevor er Ende 2018 als Direktor des Fridericianum in Kassel berufen wurde. Die Aktivitäten der Kunsthalle können auf Instagram unter @fridericianum verfolgt werden.