Endlich davonfliegen: Wahrscheinlich war es der Traum, der Enge und Schwere der irdischen Verhältnisse zu entfliehen, der die Sowjetunion über sieben Jahrzehnte ideell zusammenhielt. Nicht zufällig beginnen schon Marc Chagalls Figuren um 1917, als die Revolution erst anbricht, abzuheben. Nicht minder logisch erscheint die obsessive sowjetische Weltraum- und Raumfahrtbegeisterung, bot sie doch eine willkommene Ablenkung vom täglichen Überlebenskampf im real existierenden Sozialismus.
Auch Ilya und Emilia Kabakovs monumentales Gemälde "Flying" steht in dieser geistigen Tradition. Das derzeit in Tel Aviv ausgestellte Bild verbindet Chagalls poetische Verwandlung des Alltags ein Stück weit mit dem Machbarkeitspathos der Sowjetmacht. Das 2022 vollendete, über acht Meter breite Bild zeigt, wie eine unüberschaubare Menschenmenge ihrem irdisch-dörflichen Dasein davonfliegt.
Deren Umgang mit der gänzlich neuen Perspektive auf die Dinge kann unterschiedlicher nicht sein: Einige Männer und Frauen wirken von der eigenen Flugfähigkeit positiv überrascht, andere klammern sich an ein Propellerflugzeug. Es scheint, als hätten die Menschen ihren Halt verloren, um nun gemeinsam einem unbekannten Horizont entgegenzustreben.
Doppelter Schlusspunkt
In doppelter Hinsicht setzt "Flying" einen Schlusspunkt: In diesem Gemälde kulminieren die Nachwirkungen der großen Träume des 20. Jahrhunderts in einer bildgewaltigen Metapher für das ungewisse Leben nach dem Scheitern der Utopien. Das Bild bildet aber auch einen großen Schlusspunkt im malerischen Werk Ilya Kabakovs – zumal es direkte Verweise auf seine frühen Werke aus den 1970er-Jahren enthält.
Das Gemälde ist ein Schlüsselwerk der Retrospektive "Tomorrow We Fly" von Ilya und Emilia Kabakov im Tel Aviv Museum of Art. Shahar Molcho und Anat Peled haben die Auswahl kuratiert: die erste große Ausstellung des aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Künstlerduos in Israel, und zugleich die letzte große Schau, an der Ilya Kabakov vor seinem Tod im Alter von 89 Jahren im Mai 2023 arbeitete. Sie zeigen Werke aus über 40 Jahren, darunter noch in Moskau entstandene Gemälde von Ilya Kabakov sowie mehrere Bilder und begehbare Rauminstallationen, die Ilya und Emilia seit 1989 gemeinsam in Long Island, New York, schufen.
Für diese Ausstellung erscheint Tel Aviv als ein bestens geeigneter Ort. In den Straßen der israelischen Metropole ist mehr Russisch zu hören denn je. Neben den zahlreichen, seit den 1990er-Jahren aus der Ex-UdSSR eingewanderten Jüdinnen und Juden begegnet man dort auch jüngst im Zuge des Ukraine-Kriegs nach Israel geflohenen Menschen. Russisch wird auch im Tel Aviv Museum of Art gesprochen, dessen Aufsichtspersonal seit jeher zu erheblichen Teilen aus russischsprachigen Frauen und Männern besteht.
Ironie gegen sieches Propaganda-Pathos
Für den Besuch der Kabakov-Retrospektive sind auch Grundkenntnisse der sowjetischen Geschichte von Vorteil. Nicht nur Ilya Kabakovs Gemälde aus den späten 1970er und frühen 1980er-Jahren sind voller visueller und textlicher Verweise, die sowjetisch sozialisierte Besucherinnen und Besucher zum Schmunzeln bringen können. Mit feiner Ironie bricht Kabakov immer wieder das sieche Propaganda-Pathos der UdSSR.
Auch die gemeinsam mit Emilia Kabakov geschaffenen Rauminstallationen, die begehbaren Bildern gleichen, "sprechen" gleichsam Russisch. Trotzdem erblickte man beim Ausstellungsbesuch im September auch russischsprachige Museumsbesucher, die mit fragendem Blick durch die Säle wanderten.
Nur wenige Wochen später musste die Kunst vorerst verstummen: Nach dem Großangriff der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober schloss das Tel Aviv Museum of Art seine Türen. In den darauffolgenden Wochen wurde der Museumsvorplatz zu einem zentralen Versammlungsort im Zeichen der Sorge um die vermissten und nach Gaza entführten Menschen.
"Platz der Geiseln und Vermissten"
Am 20. Oktober erinnerte dort ein langer gedeckter Schabbat-Esstisch an das Schicksal der 240 Geiseln. Diese eindrückliche Installation war daraufhin auch in mehreren Städten weltweit zu sehen. Der Museumsvorplatz wurde von der Tel Aviver Stadtverwaltung offiziell in "Platz der Geiseln und Vermissten" umbenannt.
Seit Ende November, nach der Freilassung der ersten Geiseln im Zuge eines von den USA, Katar und Ägypten vermittelten Abkommens, ist das Museum wieder geöffnet – wenn auch eingeschränkt. Die noch bis 20. Januar bestehende Gelegenheit, die Retrospektive von Ilya und Emilia Kabakov zu sehen, sollte man gerade jetzt nutzen. Den Horizont weiten, andere Perspektiven einnehmen, hermetische Narrative ironisch hinterfragen: Ihre kluge, reflektierte, skeptische und dabei auch menschenfreundliche Kunst erscheint in diesen Zeiten notwendiger denn je.