Künstlerin malt Profilbilder aus Dating-Apps

"Ich streichle diese Männer mit dem Pinsel"

Bettina Semmer malt Profilbilder aus Dating-Apps und kombiniert sie mit den Anmachsprüchen der Tindergegenwart. Wir haben mit der Berliner Künstlerin über Begierde, Inszenierung von Männlichkeit und das Recht am eigenen Bild gesprochen 

Wer jahrelang tausende von Gesichtern (und anderen Körperteilen) auf den Dating-Plattformen "OkCupid" oder "Tinder" gesehen hat, kann sich bestimmt nicht an alle erinnern. Die Berliner Künstlerin Bettina Semmer, die unter anderem bei Sigmar Polke in Hamburg studiert hat, hat deshalb als Edition ein Memory-Spiel mit Profilbildern gestaltet, das sie "Männer des Vergessens" nennt. Für ihre Serie "The Downloaded Man" malt sie die Selbstinszenierung von Männern im Internet und kombiniert sie mit den Anmachsprüchen, die ihr im Netz begegnet sind. Im Monopol-Interview erklärt sie, was sie daran interessiert, ob man die gefundenen Männer ohne ihr Wissen malen darf und ob Dating-Apps eher Museen oder Kaufhäuser sind

Frau Semmer, man kann den Eindruck bekommen, dass auf Dating Apps alle grausamen Anmachsprüche des vergangenen Jahrhunderts überlebt haben. Auf Ihren Bildern  kann man einige davon bewundern. Haben Sie auch Positivbeispiele für gelungene Kontaktaufnahme?
Auf jeden Fall. Viele der Texte, die ich in den Bildern verwendet habe, sind sehr witzig. Das heißt aber nicht, dass die Kontaktaufnahme gelungen war: In der Serie verwende ich fast ausschließlich Texte und Profilbilder von Menschen, denen ich niemals begegnet bin. Ein Mann hat mir zum Beispiel geschrieben: "Dear Madam, you have violated several rules here. 1. Looking like a 30 year old when you’re 50." Ich bin nicht 50, aber man versucht natürlich, den Algorithmus zu überlisten, indem man sich jünger macht. Und weiter: "2. Having the most beautiful smile, Jesus those lips, 3. having the sexiest body giving multiple boners all over the world. (You have a superpower, I see)  4. being so fucking hot. Hence as a punishment you are required to reply me as soon as you get this message." 

Nicht gerade subtil. 
Nein, aber auch wenn er direkt auf die sexuelle Ebene geht, hat das einen gewissen Charme. "Hey, können wir uns mal vereinigen" fand ich auch gut. Viele Kommentare beziehen sich auf mein eigenes Profil, also nicht auf meine Person, sondern auf die Inszenierung meiner Person, die ich über die Jahre zu Recherchezwecken gestaltet habe. Auf der einen Seite ist es natürlich schmeichelhaft, wenn man jünger geschätzt wird, andererseits schwingt auch eine Einschränkung mit. 

Schreiben Sie selbst Männer an oder lassen Sie sich finden?
Ich bin nicht die traditionelle Frau, die wartet, bis der Mann sie umwirbt. Ich schreibe natürlich Männer an. "OkCupid" informiert Frauen sogar, dass sie bessere Matches bekommen, wenn sie selbst die Initiative ergreifen. Eine aktive Frau kann sich die Männer aussuchen, eine passive wird im schlimmsten Fall von jedem Deppen angemacht, der "nur Sex" will. Ich suche mir die Männer danach aus, ob ich irgendwie Verbindung aufnehmen kann. Wenn das Foto nur ein Körperteil oder eine Landschaft zeigt, funktioniert das häufig über den Text, den man in seinem Profil stehen hat. 

Was hat Sie daran interessiert, die Profilbilder von Männern zu malen, die Sie kontaktiert haben?
Es ging mir um das Männerbild, das sich stark verändert. Ich sehe viele Männer, die verunsichert sind und Zweifel am alten Männerbild haben und zugleich von Notwendigkeit der Bildproduktion wissen. Das drückt sich häufig in den Bildern und den Posen darauf aus. Sie wissen gar nicht mehr so genau, wer sie sind. Ich habe irgendwann angefangen, die kuriosen Bilder zu sammeln. Es gibt natürlich auch das andere Extrem, dieses sehr Aufgeplusterte, Pfauenhafte nach dem Motto: "Ich habe den größten Penis/die größten Muskeln/die größte Brieftasche aller Zeiten". Das ist aber auch ein Zeichen von Verunsicherung, die Kehrseite sozusagen. 

Sind Profilbilder, mit denen man sich werbewirksam von seiner besten Seite zeigt, nicht eher langweilige Porträts? Fehlt ihnen die Vielschichtigkeit, die Künstler interessiert? 
Ja und nein. Man kann im Netz Schichten von sich inszenieren, die man auf der Straße nicht zeigt. Insofern sind die Bilder sogar facettenreicher als alles, was man im Alltag zu sehen bekommt. Andererseits sind die Bilder zwangsläufig flach, weil jeder Mensch mehr als sein Bild ist. Als Künstlerin bringe ich ebenfalls etwas ans Licht, was der unbewusste Normalmensch kaum reflektieren, geschweige denn sichtbar machen kann. Ich zeige verschiedene zeitdiagnostische Aspekte, die erst mit dem Online Dating in die Wirklichkeit gekommen sind.

Was kann die Malerei zeigen, was auf den Fotos nicht drauf ist?
Ich bringe Bilder und Nachrichten so zusammen, dass zwischen ihnen eine Verbindung entsteht. Der Mann, den ich porträtiere, hat nicht den Text geschrieben, der auf dem Gemälde steht. So entsteht etwas Neues. Die Malerei ist sehr körperlich, das Ausgangsbild wird durch meine Hand gefiltert. Es ist keine platte Reproduktion. Ich streichele diese Körper mit dem Pinsel und verwandle sie. 

Haben Dating-Apps eigene Bildsujets hervorgebracht? Badezimmer-Selfies, Koala-Streichler, Bergbesteiger?    
Ja, genau die. Der Text von Frank Engster zu der Serie heißt nicht umsonst "In the mirror selfie stage" - in Anspielung auf das Spiegelstadium, das der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan beobachtet hat. Das Spiegel-Selfie ist eine Bildgattung, die es so omnipräsent erst seit dem Handy gibt und die besonders oft in Dating-Plattformen vorkommt. Bilder mit Kindern, Tieren, Autos  interessieren mich nicht besonders, auch wenn manche Männer glauben, dass sie durch ein süßes Tier begehrenswerter werden. Man könnte es als eine Bildgattung beschreiben; Mensch plus Zusatz, der das Objekt noch begehrenswerter macht.

Wissen Ihre Modelle, dass sie gemalt werden?
Manchmal schreibe ich es ihnen, aber manche wissen auch nichts von dem Projekt. Von Männern, die ich getroffen habe, habe ich Aktzeichnungen gemacht, die sind ganz anders: Im direkten Kontakt entsteht eine Serie mit dem Titel "Intimate drawings", natürlich mit Einverständnis. Aber das waren in sechs Jahren Online Dating nur wenige aus mehreren tausend Männern. 

Haben Sie keine Bedenken, das Recht am eigenen Bild zu verletzen, wenn Sie ohne Zustimmung Profile malen?
Klar habe ich darüber nachgedacht und ich "übermale" die Bilder deswegen auch. Es ist eine Art von Verfremdung, keine Kopie. Das Recht am eigenen Bild ist in der Malerei definitiv eine Grauzone.

Sind Dating Apps mit ihrem Bildangebot eher Museum oder Kaufhaus?
Tinder ist Woolworth, OkCupid ist das Kadewe - zumindest war es das in der Anfangszeit, in den letzten zwei Jahren wurde es "tinderisiert". 

Aber sind sie nicht auch ein Archiv, in dem Vorstellungen von Begierde und begehrenswerten Körpern gespeichert werden?
Ja. Ich bin traurig darüber, dass ich meine ersten eigenen Profile geschlossen habe. Wenn man die Konversationen nachlesen könnte, wäre es ein gutes Museum über die sechs Jahre, in denen ich das jetzt mache. Am Anfang war ich sehr naiv und begeistert von den Möglichkeiten, die es gibt. Man lernt Leute kennen, mit denen man im normalen Leben nicht mehr in Kontakt kommt. Tinder ist Plattform und Schnittstelle wie früher die Disko, kommt aber additiv dazu und ist zugleich ein eigenständiger, vorgelagerter Ort. Mit dem neuen Medium habe ich viele interessante Erfahrungen machen und Bilder sammeln können. 

Sind Dating Apps befreiend, weil Frauen und Männer gleichberechtigt begehren und begehren lassen?
Das ist eine komplexe Frage. Durch die Unterzahl der Frauen auf Dating-Apps - die Quote liegt ungefähr bei 1:16 - haben sie eine Riesenauswahl, auch Frauen in meinem Alter, die dachten, dass sie niemand mehr anschaut. Es gibt ja diesen Spruch, dass es für eine Frau ab 40 wahrscheinlicher ist, von einer Atombombe getroffen zu werden, als nochmal einen Mann zu finden. Auf einmal wird man hofiert, aber es führt auch dazu, dass Frauen wieder in sehr weibchenhaftes, passives Verhalten fallen. Nach dem Motto: "Jag mich!" oder "mir ist keiner gut genug" - das König Drosselbart-Prinzip. Deshalb werden die Männer immer verzweifelter und dreister in ihren Anmachen. Die Tendenz ist, dass Frauen sich wenig emanzipiert verhalten.  

Wenn ein männlicher Maler die Profilbilder von leicht bekleideten Frauen malt, würde man ihm ziemlich sicher vorwerfen, die Frauen zum Objekt zu machen. Wie ist es andersherum?
Andersherum heißt nicht: das Gleiche nur andersherum. "Es gibt kein Geschlechterverhältnis" heißt, die Frau wurde immer aus dem Mann abgeleitet. Erstmals wird eine uralte Tradition konterkariert, die jahrhundertelang die Kunstgeschichte prägte: dass männliche Maler Frauenkörper malen, sie zum Objekt des Begehrens stilisieren und zur Natur erklären. Frauen- wie Männerkörper sind aber kulturell angeeignet und somit nicht Natur. Meine Porträts von leicht oder unbekleideten Männer heben diese Aneignung des Körpers - durch sich selbst und durch die gesellschaftlichen Prägungen - nicht nur hervor, sie betonen sie geradezu. Und ist die Umkehrung des Begehrens "Frau malt Mann" nicht auch ein witziger und längst fälliger Ausgleich? Nicht zuletzt deswegen, weil der Fokus ja nicht nur auf dem Bildgegenstand an sich liegt, sondern auf einer immer noch zu wenig bekannten Lebensform.

Welcher?
Die der weiblichen Künstlerin und ihrem spezifischen Blick. Dass deren Sujets im Zeitalter von political correctness auch moralischen Maßstäben unterliegen, daran besteht kein Zweifel. Also muss der Betrachter entscheiden, ob der Mann bei mir als Objekt der Begierde oder als Gegenstand soziologischer Studien ins Bild gesetzt wird, oder ob wir ihn einfach nur bewundern dürfen und das gut so ist.