Bilder des mutmaßlichen Berliner Raubtiers

Ich kann beim besten Willen keine Löwin erkennen

Die entlaufene Löwin im Berliner Umland war wohl doch nur ein Wildschwein. Die Sommerloch-Jagd ist ein Lehrstück über die Kraft von Bildern, die eine eigene Realität herstellen können

Das Sommerlochtier 2023 ist eine Gestaltenwandlerin. Innerhalb von eineinhalb Tagen hat sich eine Löwin, die im Raum Kleinmachnow am südlichen Stadtrand Berlins unterwegs sein sollte, in ein Wildschwein transformiert. Am Freitagnachmittag gab die Polizei Entwarnung: Bei dem auf einer wackeligen nächtlichen Kameraaufnahme zu sehenden Kreatur handele es sich wohl nicht um eine entlaufene Raubkatze, sondern  um einen in dem Gebiet weit verbreiteten Paarhufer, der sich an einem Baum schubbert.

Um das zu verdeutlichen, zeigte der Bürgermeister von Kleinmachnow, Michael Grubert (SPD), ein ziemlich improvisiert aussehendes Diagramm, auf dem Filmstills aus dem unscharfen Zeugenvideo mit einer hineinmontierten Löwin verglichen wurden. Mit bunten Linien waren die unterschiedlichen Formen des Schwanzes, des Rückens und der Schenkel eingezeichnet. 

Diese Schlussfolgerung, die von Anfang an von einigen Wildtierexperten prognostiziert wurde, ist das etwas enttäuschende Ende eines kollektiven Löwenfiebers. Dieses äußerte sich in zahllosen, auch internationalen Medienberichten ("Was mache ich, wenn ich einem hungrigen Raubtier begegne?"), Social-Media-Spekulationen und Memes (Löwin im Berghain oder in der Schlange für eine Wohnungsbesichtigung in Berlin).

Mit jedem dieser Bilder wurde die Löwin realer

Faszinierend ist, wie sehr sich die dafür aufgerufene Bildsprache von der Realität unterschied. Was es tatsächlich und gesichert zu sehen gab, waren lediglich in Kleinmachnower Wäldern herumstochernde Polizeikräfte und Einsatzwagen auf den Straßen. Nichts also, mit dem sich eine mutmaßliche Sensation wie eine Großkatze im Wohngebiet adäquat bebildern ließe. Also griffen die meisten Redaktionen und Content-Creators zu Symbolbildern, um das zu zeigen, was unsichtbar blieb: stattlichen Löwinnen und Löwen, mal mit, mal ohne Mähne und teils in einer sehr unberlinischen Savannen-Umgebung. 

Mit jedem dieser Bilder wurde die Löwin realer. Je mehr man davon gesehen hatte, desto mehr glich auch die angestrahlte Gestalt auf dem Zeugenvideo einem dieser anmutigen, aber gefährlichen Tiere. Allerdings bricht das Video auch genau in dem Moment ab, in dem das Wesen zwischen zwei Büschen hervorzukommen scheint und besser zu erkennen wäre. Außerdem war es erstaunlich, dass trotz der Tatsache, dass heute nahezu alles gefilmt wird, keine weiteren Löwenvideos auftauchten und Sichtungen nur Hörensagen blieben.

Insofern gleicht das Video, das wahrscheinlich auch mit Wildschwein-Content in die Geschichte eingehen wird, den Zeugnissen von Ufo-Sichtungen und übernatürlichen Erscheinungen. Sie sind immer gerade so deutlich, dass man etwas erkennen kann, das aufrüttelt. Aber auch so unspezifisch, dass man sehen kann, was man sehen will.

Mehrdeutig genug, um Zweifel zu nähren

Fotografie oder Film fungieren dabei als Medien, die glaubwürdig genug sind, um eine Theorie zu unterfüttern und von Experten interpretiert zu werden. Aber die Bilder sind dann doch mehrdeutig genug, um Zweifel zu nähren. Es lässt sich nicht beweisen, dass da ein Ufo / der Yeti / ein Geist zu sehen ist. Aber es lässt sich genauso wenig beweisen, dass da keiner ist. Irgendwo in diesem Spannungsfeld fängt der Glaube an. 

In der Berliner Kunstbibliothek wird gerade eine Ausstellung über Ufosichtungen in verschiedenen Epochen gezeigt. Diese macht deutlich, dass unheimliche Phänomene und ihre Visualisierungen zu unserer Geschichte gehören, und dass sich manche Erzählungen und Mythen jahrhundertelang halten. Egal also, was da im Kleinmachnower Wald herumspazierte: Die Bilder einer Löwin in Berlin haben sich schon jetzt in unseren Köpfen eingebrannt.