"Klimt/Schiele/Kokoschka"-Kurator Weidinger im Interview

"Ich bin gegen Zensur"

Auf einmal rufen die Künstler der Wiener Moderne Empörung hervor, weil sie nackte Frauen und Kinder gemalt haben. Ihre Werke werden jetzt im Belvedere gezeigt – Kurator Alfred Weidinger ist um Differenzierung bemüht

Es gibt eine Frage, die sich immer und immer wieder stellt: Darf der Künstler mehr als andere? Die Antworten sind so divers wie die Menschen, die sich damit beschäftigen. Im Kern basieren sie jedoch immer auf ihren Moralvorstellungen. Im Museum Belvedere eröffnet eine Schau mit dem Titel "Klimt/Schiele/Kokoschka und die Frauen". Wir nehmen diese zum Anlass, um den gegenwärtigen Blick kennenzulernen, der auf Bilder aus der Vergangenheit geworfen wird. Historiker schreiben bis heute gegen Männer an, die Frauen zum Gegenstand ihrer Kunst erhoben haben. Und sie kämpfen immer noch für Aufklärung über Kinder, die Künstler dargestellt oder wie der Architekt Adolf Loos aktenkundig missbraucht haben. So auch Alfred Weidinger, der stellvertretende Direktor des Belvedere, mit seiner Forschung. Seine aktuelle Ausstellung hingegen sorgt für Irritation.

Alfred Weidinger, laut Mitteilung Ihres Hauses sollen die Künstler Gustav Klimt, Egon Schiele und Oskar Kokoschka sich die "Frauenfrage" gestellt haben. Können Sie mir erklären, was diese beinhaltet?
Die Frauenfrage wurde in der Anfangsphase der Emanzipationsbewegung gestellt – gerade hier in Wien, der Heimat der Psychoanalyse. Die österreichischen Frauen forderten neue Rechte ein, und das rief massive Gegenwehr hervor. Die Männer hatten Angst, Macht zu verlieren, und waren von dem weiblichen Geschlecht verunsichert. Es stürzte auch ihre eigene Identität in die Krise. Psychologen, Analytiker und Philosophen erforschten die Frau, die zum Störfaktor der Gesellschaftsordnung aufgestiegen war. Das klingt heute abenteuerlich und absurd, aber damals war das so. Für die Künstler, die im ausklingenden Späthistorismus nach neuen Herausforderungen suchten, war das natürlich genauso von Interesse. Um nicht die gesellschaftlich legitimierte, institutionalisierte Frau als solche direkt anzugreifen, transformierten sie die Künstler unter dem literarischen Begriff "Weib" in ihre sakrosankte Kunstwelt. Die Frau der Wiener Moderne wurde entweder als Madonna idealisiert, zum formbaren Mädchen degradiert, als Muse funktionalisiert oder schließlich als Hure diffamiert und auf ihr Geschlecht reduziert. Die weibliche Eigenständigkeit wurde auf diese Weise gezielt zerstört und zugleich für das männliche Kunstschaffen vereinnahmt.

Und wie äußert sich das Ihrer Ansicht nach in den Werken der bildenden Künstler?
Frauen sind das Hauptmotiv von Gustav Klimt, das wird auf drei unterschiedliche Arten sichtbar. Erstens überhöhte er sie mythologisch und inszenierte sie symbolistisch, etwa in den Bildern "Judith", "Salome" oder "Danaë". Dann schuf er eine Reihe von repräsentativen Porträts, die den Erwartungen der großbürgerlichen Gesellschaft entsprachen. Dazu gehören etwa "Fritza Riedler", "Adele Bloch-Bauer" und "Elisabeth Lederer". Diese Aufträge brachten ihm auch das meiste Geld ein. Dann gibt es aber auch Bilder und Zeichnungen, die in der Privatsphäre seines Ateliers entstanden sind. Klimt war einer der ersten Künstler, die sich für Masturbation bei Frauen interessierten. Gefiel ihm ein Mädchen, hielt er die Momente der Entspannung und der Selbstbefriedigung bis hin zur Ermattung in Zeichnungen fest. So entstanden Serien, die den zeitlichen Ablauf und die unterschiedlichen Stadien der Lust nachzeichneten. Seine Modelle müssen ihm irgendwie vertraut haben, ihn in ihre Kreise aufgenommen haben.

Von Oskar Kokoschka wird für gewöhnlich das Gegenteil behauptet.
Im Gegensatz zu Klimt war Kokoschka in sexueller Hinsicht ein Spätzünder, außerdem hat er sich für sinnliche Erotik niemals interessiert. Er war Expressionist und arbeitete in einer Zeit, in der die Moderne neu definiert wurde. Adolf Loos veröffentlichte 1908 "Ornament und Verbrechen" und hatte die Reduktion der Formen bereits vorangetrieben. In dieser Zeit entstanden auch Kokoschkas Zeichnungen von jungen Mädchen in der Kunstgewerbeschule. Kokoschka interessierte sich nicht für die reiferen Modelle, die die Schule für den Aktunterricht beschäftigte. Ich denke, er suchte eher einen androgynen Idealkörper und holte sich die Mädchen von der Straße. Für sie musste er kein Honorar bezahlen wie für die professionellen Aktmodelle, die etwa auch Klimt engagierte. Dafür hatte Kokoschka überhaupt nicht das Geld, er war ja noch Student. Im Gegensatz zu Egon Schiele war er auch nicht an der Sexualität interessiert. Schiele hingegen blickte mit lüsternem Blick auf die Frauen und Mädchen. Dieses Begehren spielte bei Kokoschka, zumindest in künstlerischer Hinsicht, keine nennenswerte Rolle.

Finden Sie es nicht etwas populistisch, nur weibliche Akte auszustellen, die von Männern gemalt wurden? Jeder der Künstler hat weit mehr als nur Frauen dargestellt, und es gab auch Künstlerinnen, die Bilder von Frauen geschaffen haben.
Künstler setzen sich seit der Antike mit dem nackten weiblichen Körper auseinander, und gerade in der österreichischen Kunst spielt dieser eine tragende Rolle. Bei Ausstellungen ist die Herangehensweise wichtig, vor allem die Kontextualisierung, man darf nicht einfach Bilder unkommentiert an die Wände hängen.

Der Umgang mit solchen Bildern hat sich drastisch verändert. Können Sie diese Rezeptionsgeschichte kurz skizzieren?
Sie schreitet sehr langsam voran. Die Emanzipation ist auch heute noch nicht dort, wo sie eigentlich hingehört, wenn Sie mich fragen. Mir jedenfalls fehlt noch immer das Buch, in dem die Emanzipationsbewegung, gerade zu Lebzeiten der genannten Künstler, objektiv hinterfragt wird.

Wie meinen Sie das?
Es gibt sehr viele wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Abhandlungen, aber diese stammen meistens aus der Feder von Frauen. Sie werden dadurch schnell politisch, subjektiv, wenn nicht sogar emotional. Das ist natürlich verständlich, sie wollen mit dem Machismus dieser Zeit aufräumen. Aber so mangelt es an objektiven Darstellungen, in denen auch die Situation der Männer berücksichtigt wird. Marianne Hainisch, die die österreichische Frauenbewegung begründete, berichtete 1899 auf dem Frauenkongress in London – und das ist jetzt ein Zitat! –, dass die meisten Frauen der neuen Frauenbewegung skeptisch gegenüberstünden, teils aus Weltfremdheit, teils, weil sie es sich mit den Männern nicht verderben wollten, teils, weil sie erkannten, dass ihre Emanzipation ihnen viele Pflichten auferlegen würde. Ich meine, diese Aussage schafft einen überlegenswerten Diskurs, nur will das so niemand wirklich hinterfragen.

Sie fordern also, wenn ich das zusammenfassen darf, nicht nur eine Kritik am männlichen Blick, sondern auch am weiblichen Verhalten?
Genau.

Verstehe.
Das Hainisch-Zitat ist natürlich leicht dahingesagt, aber mich würde einfach interessieren, wie die Situation tatsächlich war. Zum Beispiel welche Möglichkeiten boten sich damals für eine Frau, Künstlerin oder Schriftstellerin zu werden, und welche lehnte sie womöglich ab. Worauf musste sie verzichten?

Behandelt werden Fälle, in denen junge Mädchen von Künstlern von der Straße geholt wurden. Darin äußern sich prekäre Lebensverhältnisse, die zu Abhängigkeiten führen. Ich verstehe nicht, was daran "emotional" oder "subjektiv" sein soll.
Die Begriffe beziehen sich nicht auf explizite Fälle, sondern auf die oftmals einseitige Analyse der Entwicklung der Emanzipationsbewegung. Und natürlich haben Künstler die Notlage von manchen Modellen damals ungeniert
ausgenutzt, entweder in der Bemessung der Höhe des Honorars oder auch in Form von körperlicher Zuwendung.

Sie forschen auch über die Wiener Aktionisten, die bis Ende August im Mumok ausgestellt wurden. Für einige von ihnen legitimierte die Psychoanalyse Missbrauch, der zu allem Übel auch noch im Namen der Freiheit der Kunst geschah.
Ja, das sehe ich auch so. Sie bezeichnen sich als Virtuosen des Körpers, aber haben den weiblichen Körper als Reflektionsfläche ihrer sexuellen Begierden missbraucht. Allen voran natürlich Otto Muehl. Andererseits haben sie damit auf tabuisierte Themen aufmerksam gemacht, wie Schwangerschaft, Menstruation, Geburt, und dadurch die feministische Kunst um eine weitere Dimension bereichert. Denken Sie nur an Valie Export, die gemeinsam mit Peter Weibel die Öffentlichkeit gesucht hat und damit auf die Straße und auf Bühnen gegangen ist! Ganz im Gegensatz zu den Aktionisten übrigens, die damals alles im stillen Kämmerlein betrieben haben. Vielleicht war dieser Prozess, den die Männer angetrieben haben, ja notwendig für das Selbstverständnis der feministischen Performancekunst.

Sie können einer Darstellung, in der sich ein Missbrauch verbirgt, einen künstlerischen Gehalt abgewinnen?
Das sind Fakten. Ich sage ja auch immer: An dem Missbrauch der Frau als Projektionsfläche hat sich seit Klimt bis heute kaum etwas verändert. Aber trotzdem half das etwa Valie Export, sich zu emanzipieren und zu ihren feministischen Themen zu kommen.

Das Museum für angewandte Kunst (MAK) in Wien rekonstruierte das Schlafzimmer von Adolf Loos und stellte es bis April prominent aus.
Dass Adolf Loos ein Sexualstraftäter war, der sich an Minderjährigen vergangen hat, ist nichts Neues. Es gibt Prozessakten, Zeitungsartikel, nur hat sich niemand dafür interessiert. Niemand wollte den Helden mit einem Makel behaften, das geordnete Weltgerüst, das er uns hinterlassen hat, beflecken. Selbst der große Loos-Biograf Burkhardt Rukschcio verschwieg diese Verbrechen in seiner Monografie. Man darf ja ruhig ein Schlafzimmer rekonstruieren, auch wenn ich das eher für einen Ausstellungsgag halte, aber dann muss man eben auch die Zusammenhänge erklären und beschreiben, was Loos in diesem Schlafzimmer aufgeführt hat, das kostet natürlich viel Zeit, Mühe und vor allem Courage.

Halten Sie die Empörung über solche Ausstellungen für einen notwendigen Ruf nach Tabus oder einen moralischen Zeigefinger?
Ich bin grundsätzlich ein Gegner der Zensur. Die Rekonstruktion des Schlafzimmers bietet ja auch eine Chance, Aufklärung zu betreiben.

Es wird gerne behauptet, im Museum schaute man automatisch und quasi per Naturgesetz anders auf Bilder. Entstehen so nicht Konflikte mit dem Publikum?
Ausstellungen dürfen daher auch keine Bilderausstellungen mehr sein, diese Zeit ist hoffentlich bald vorbei. Selbst das Begleitheft und der Audioguide reichen nicht aus, um mitzuteilen, was zu erklären ist. Im Museum lesen die Besucher endlich wieder, das kann man nutzen. Im Rahmen unserer Ausstellung arbeiten wir etwa mit einer eigenen Textebene, in der Fragen aufgeworfen und manche Antworten gegeben werden. Auch der Katalog ist hinsichtlich der notwendigen Aufklärung und Erläuterung zu einem wichtigen Medium geworden.

Kunstgeschichte lässt sich auch posthum umschreiben. Welche Verantwortung haben Kuratoren gegenüber zeitgenössischen Werken?
Ich bin wie gesagt gegen die Zensur. Für den Einspruch gibt es die Gesellschaft. Diese reagiert ja auch sofort, denken Sie nur an die Reaktionen aus den Tierschutzvereinen auf die Fortführung des "Orgien- Mysterien Theaters" von Hermann Nitsch. Für unsere Arbeit gilt, dass sich Kuratoren anderen Disziplinen öffnen und diese in die Kontextualisierung miteinbeziehen. Gerade die Auswirkungen des Wiener Aktionismus haben mich sehr berührt. Ich habe Otto Muehl drei Mal im Gefängnis besucht, weil ich es wirklich verstehen wollte, wie die Gesellschaft seine Verbrechen so lange tolerieren konnte. Er wurde viel zu spät verurteilt.

Und was haben Sie ihn gefragt?
Warum die Frauen und minderjährigen Mädchen mitgemacht haben. Er sagte dann, es sei oft in der Ekstase geschehen – aber ist das eine Entschuldigung? Und warum haben die anderen Teilnehmer nicht eingegriffen und dann jahrelang geschwiegen? Ich hinterfrage die Ursache des Verhaltens von Künstlern und die Umstände, die zur Entstehung des jeweiligen Kunstwerks beigetragen haben. Das hat mich immer interessiert. Auch wenn ich damit wahrscheinlich nicht viel verändere, Sie erreichen mit einer Zeile wohl bedeutend mehr.