Elliott Erwitt ist tot. Der Satz klingt unvorstellbar. Denn Erwitt war eine Art Methusalem. Vor allem aber war er für die allermeisten ein bisschen wie die Queen: Irgendwie schon immer da. Genauso wie seine unzählbaren ikonischen Fotografien, die in das kollektive Gedächtnis gleich mehrerer Generationen eingegangen sind.
Wer kennt nicht das Foto von dem Jungen und seinem Vater, die auf dem Fahrrad eine südfranzösische Allee entlang fahren und zwei Baguette-Stangen auf dem Gepäckträger transportieren? Unendliche Kopien des Bildes befinden sich in Bistros, Cafés, Weinbars und Bäckereien auf der ganzen Welt. Und zu einer wahren Ikone des Verliebtseins ist seine Aufnahme eines sich küssenden Paares geworden, deren Gesichter wir allerdings nur im Rückspiegel eines Autos zu sehen bekommen - der Großteil des Bildes wird vom Sonnenuntergang über dem Meer in Santa Monica eingenommen.
Viele von Erwitts Schwarzweiß-Aufnahmen strahlen eine Leichtigkeit und oft auch Humor aus. Das ist selten genug in der Fotografie und im Kunstbetrieb sowieso nur in homöopathischen Dosen anzufinden. Erwitt hat es in seiner Karriere geschafft, weil seine Bilder intelligent sind und er sich nicht auf Kosten der Abgebildeten lustig macht.
Zum Niederknien komisch
Wenn er sich überhaupt über jemanden lustig gemacht hat, dann über sich selbst: Er hatte nie ein Problem damit, sich ein Plastik-Spiegelei ans Hemd zu kleben, sich mit der Finger in der Nase fotografieren zu lassen oder eine Camping-Lampe mit ins Restaurant zu nehmen, "um die Karte besser lesen zu können", wie seine vierte Ex-Frau, die Kölner Filmemacherin und Schriftstellerin Pia Frankenberg, einmal erzählte.
Humor und Humanismus prägten sein Weltbild genauso wie seine Fotografie. Und jeder, der ihm einmal begegnet ist, war entzückt von seiner charmanten und witzigen Art. Genauso absurd wie er sein konnte, sind viele seiner Fotos. Oft spielen sie mit Gegensätzen. Egal, ob es sich um Menschen und Tiere (besonders Hunden galt Erwitts Leidenschaft), Männer und Frauen oder das mitunter skurrile Verhalten von Museumsbesuchern vor und mit Kunstwerken handelt.
Allein seine Aufnahme, die er im Prado in Madrid gemacht hat, ist zum Niederknien komisch: An der Museumswand hängen die beiden Öl-Gemälde der bekleideten und der nackte Maja von Francisco de Goya – nur, dass vor der bekleideten Variante eine Frau, vor der unbekleideten aber sieben Männer stehen, um sich das Bild anzuschauen.
Erwitt konnte auch politisch sein
Doch auch wenn ein Großteil seiner Aufnahmen (mindestens) ein Augenzwinkern in sich tragen: Erwitt konnte auch politisch und sozialkritisch sein. Sein Foto von zwei unterschiedlichen Waschbecken – das große, moderne und saubere für die weiße, das alte, kleine und abgenutzte für den Teil der Bevölkerung, der hier auf dem Foto "colored" genannt wird, als Symbolbild für die Rassentrennung in den USA der 1950er-Jahre ist ein bekanntes Beispiel.
Geradezu legendär ist seine Momentaufnahme aus der sogenannten "Küchen-Debatte", als der US-Präsident Richard Nixon dem sowjetischen Regierungschef Nikita Chruschtschow mit dem Finger auf die Brust stößt, während sie öffentlich ihre unterschiedlichen Ansichten zu Kommunismus und Kapitalismus austrugen. Das Foto steht als Sinnbild des Kampfes der beiden Systeme auf einer sehr persönlichen und menschlichen Ebene und wurde in beiden Ländern entsprechend interpretiert: In den USA wurde es zum Symbol, wie sich die Vereinigten Staaten der UdSSR entgegenstellt, in der Sowjetunion wurde es hingegen als Bedrohung aufgefasst.
Geboren wurde Erwitt 1928 als Kind russischer Eltern in Paris. Er wuchs in Mailand auf und seine Familie emigrierte nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in die USA, wo er in Hollywood seine Jugend verbrachte und die Fotografie erlernte. Mit 20 zog er nach New York, besuchte Filmkurse an der New School for Social Research und lernte darüber zwei der wichtigsten Fotografie-Akteure des 20. Jahrhunderts kennen, Edward Steichen und Robert Capa, sowie den Leiter der Farm Security Administration, Roy Stryker.
Der Letzte der "Family of Man"
Der hatte zuvor bereits mit seinem Fotoprojekt über die katastrophalen Folgen der Großen Depression für die verarmte Landbevölkerung die Karrieren von Walker Evans, Dorothea Lange, Gordon Parks und anderen gefördert und engagierte Erwitt für zwei Aufträge, unter anderem für ein Dokumentationsprojekt über die Stadt Pittsburgh. Drei Jahre später, 1953, war Erwitt bereits Mitglied der heute legendären, damals aber noch sehr jungen Fotografenagentur Magnum und fotografierte für Magazine wie "Life", "Look" und "Collier's".
1955 nahm Erwitt mit seinen Fotos auch an der nicht minder legendären Ausstellung "The Family of Man" im MoMA teil, die anschließend um die Welt reiste, um zehn Millionen Menschen ein Stück Menschlichkeit nahe zu bringen. Sie gilt als die meistgesehene Fotoausstellung aller Zeiten.
Von den 273 Fotografinnen und Fotografen, die in der Ausstellung gezeigt wurden, war er der letzte noch lebende. Am Donnerstag ist er nun friedlich im Alter von 95 Jahren und im Kreise seiner Familie eingeschlafen.