Die Gitarre ist immer dabei. Weil er täglich mindestens drei Stunden üben muss, erzählt Hiwa K, der eben nicht nur Künstler ist, sondern auch Musiker und neuerdings sogar Landwirt. Wir treffen den kurdischen Allrounder in einem Café in Kreuzberg, sind kurz davor, ihn zu bitten, eine kleine Melodie anzustimmen (und tun es dann doch nicht, weil wir zum Reden hier sind).
Es sind nämlich die Melodien, nicht die Akkorde, die sein Denken bestimmen. Akkorde sind vertikal, entsprechen der hierarchischen Systematik des Westens, so ungefähr hat das Hiwa K einmal formuliert. Und auch im Gespräch bei Tee und Zigaretten lässt der Künstler immer wieder durchblicken, dass er sich einer Kultur der Horizontale, der Melodie, aber auch der Vielstimmigkeit verpflichtet fühlt. Ein Gespräch über Arbeiten im Kollektiv, eine Berliner Ausstellung und warum Hiwa K jetzt wieder im Irak lebt.
Hiwa K: Stört es Sie, wenn ich rauche?
Überhaupt nicht. Wir sitzen ja draußen.
15 Jahre lang habe ich keine Zigarette angerührt, habe mir das Rauchen in Berlin aber wieder angewöhnt. Hier ist die Luft so schmutzig, das entspricht wohl ungefähr zwei Schachteln Zigaretten.
Sie leben jetzt wieder in Ihrer Geburtsstadt Sulaimaniyya im Irak. Ist die Luft dort besser als in Berlin?
Nein, eher schlimmer. Im Irak floriert der Autohandel. Wir haben zu viele Autos, die die wenigen Straßen verstopfen.
Wann sind Sie nach Sulaimaniyya gezogen und warum?
Ich habe 18 Jahre in Deutschland gelebt, davon zuletzt zehn Jahre in Berlin. Ich habe mein Land verlassen, als ich jung war, denke aber, dass es dort jetzt Wichtiges zu tun gibt. Ich werde dort gebraucht. Ich könnte mich jetzt auf meine Karriere in Europa konzentrieren und viel Geld mit meiner Kunst verdienen. Aber es war wichtig, eine Pause einzulegen, denn es waren keine Karrieregründe, die mich zur Kunst gebracht haben.
Sie standen dem westlichen Kunstbetrieb schon immer kritisch gegenüber.
Sicher, aber ich will die Systemkritik auch nicht überziehen. Das wäre sehr zynisch. Ich bin Teil dieses Systems, und ich lebe auch von der Kunst. Ich versuche immerhin, die Überproduktion zu vermeiden. Es genügt doch, alle ein bis drei Jahre ein Werk herauszubringen, eines, das ohne Marktdruck zustande kommt und mit dem ich glücklich bin. Jedoch stecken wir am Ende alle im kapitalistischen System, weil wir unsere Miete bezahlen müssen. In meinem Fall ist es so, dass ich mit meinen Einkünften Projekte finanziere – und auch meine Farm, für die ich Geld brauche.
Was ist das für eine Farm?
Sie liegt in den Bergen, 30 Autominuten von Sulaimaniyya entfernt. So kann ich die Stadt gut erreichen. Es ist ein kleines Stück Land von ungefähr 5000 Quadratmetern. Leider lebt man dort gefährlich. In den Dörfern im Nordirak hat man es oft mit Drohnen aus Nachbarländern zu tun. Nicht wenige Zivilisten kommen ums Leben. Aber ich möchte dort bleiben, weil ich denke, dass ich dort gebraucht werde. Meine Verbindungen zum Westen und speziell zu Deutschland möchte ich aber auch nicht verlieren. Ich habe ein halbes Leben in Europa zugebracht, das prägt. Es ist schön, jetzt wieder in Berlin zu sein. Und ich freue mich, dass ich hier jetzt wieder eine Ausstellung habe.
Über Ihre Ausstellung "Like A Good, Good, Good Boy" in der Galerie KOW sollten wir auch sprechen. Bleiben wir aber erstmal bei der Farm: Was bauen Sie an? Halten Sie dort Tiere?
Es ist ein besonderer Grund und Boden. Als ich sie kaufte, war die Farm in schlechtem Zustand. Das hängt mit den Veränderungen während der Besetzung des Irak zusammen. Seit 2003 hat der Monsanto-Konzern die Landwirtschaft unter seine Kontrolle gebracht. Die Veränderungen im Neoliberalismus haben mich dazu gebracht, mit Boden zu arbeiten – und mich um Bäume, Tiere und – nicht zu vergessen – Menschen zu kümmern.
Wie das?
Als ich das Grundstück erwarb, war alles voller Pestizide. Äußerlich sah es, auf artifizielle Weise, schön aus. Ich musste die Farm von den ganzen Chemikalien befreien. Natürlich wird die Chemie von den anderen Bauern weiterhin benutzt. Sie vertreiben die Würmer, die jetzt über meine Bäume herfallen. Für mich ist das aber eine gute Sache. Denn meine Praxis besteht immer darin, aus der Ausgangslage das Beste zu machen. Und außerdem: Würmer sind doch auch lebendige Wesen, oder? Außerdem halte ich Hühner – und Tauben, erst waren es sechs, inzwischen sind es über 40. Die Vögel füttere ich mit den Samen von Sonnenblumen, die ich anbaue. Auf der Farm treffen sich außerdem Künstler und Aktivisten. Unter anderem ging es um die Vorbereitung zu einem Projekt im Museum für zeitgenössische Kunst in Sulaimaniyya.
Was ist das für ein Projekt?
Das Museum wurde ab 2003, nach dem Fall des Regimes von Saddam Hussein, gebaut. Es gab einen Vertrag über den Museumsneubau, aber die Korruption durchkreuzte das Vorhaben. Die Hälfte des Budgets floss in andere Kanäle, daher war das Museum gleich in einem desaströsen Zustand. Es war unbrauchbar und musste gleich geschlossen werden. Eine schlechte Ausgangslage, was den klassischen Museumsbetrieb angeht, aber wieder eine sehr gute Sache für mich.
Inwiefern?
In normalen Museen geht es darum, Objekte zu sammeln und auszustellen. Dieses Museum zeigt sich selbst. Es ist ein Phänomen, das viel über Korruption und den gesellschaftlichen Zustand erzählt. Ich habe dann um Erlaubnis gebeten, im Museum das laufende Kollektivprojekt "Chicago Boys" weiterzuführen. Vor einem Monat wurde mir das Vorhaben bewilligt, und ich habe die Schlüssel bekommen – für sechs Wochen. Aber der Plan geht darüber hinaus. Ich würde nicht von Hausbesetzung sprechen, denn es geht um die Rückforderung von öffentlichem Raum. Es gibt verschiedene Unternehmen, die das Museumsgebäude für ihre Zwecke beanspruchen wollen, aber es gehört ja den Menschen. Wir sind jetzt eine Gruppe von 20 bis 25 Leuten, die das Gebäude reaktivieren, ein Café einrichten, zweimal die Woche kostenlos Essen und Getränke anbieten und so weiter. Würden wir das nicht tun, hätten die Kapitalisten freie Hand. Sie reißen sich jeden Ort unter den Nagel, um ihn in eine Shopping-Mall zu verwandeln.
Wir sprechen jetzt die ganze Zeit von Sulaimaniyya im Nordirak, ein Gebiet, in dem der Anteil der kurdischen Bevölkerung sehr hoch ist. In anderen Städten im Irak ist die Bevölkerungsstruktur anders. In Bagdad lebt eine vorwiegend arabisch-stämmige Bevölkerung. In Ihrer Ausstellung bei KOW blicken Sie zurück in Ihre Kindheit und Jugend vor dem Irakkrieg. Sie stammen aus einer kurdischen Familie, die unter dem Baathismus zu leiden hatte. Inwieweit gelang es dem Saddam-Regime, die Arabisierung der Kurden voranzutreiben? Und wie hoch sind die kulturellen Unterschiede im Irak heute?
Gut, dass Sie das fragen. Saddam versuchte, Kurdistan zu assimilieren, was ihm nur teilweise gelang. Davon handelt meine neue Arbeit "Ball ballat Babel", die gerade bei KOW zu sehen ist. Auf mehreren Leuchtkästen sind arabische Schriftzeichen angebracht. Als Sechsjähriger wurde mir bewusst, dass ich von der kurdischen zur arabischen Sprache gewechselt hatte, gleichzeitig begriff ich, dass Arabisch überhaupt eine Sprache war. Heute spielen diese kulturellen Unterschiede nur noch eine untergeordnete Rolle. Das Kapital ist der große Gleichmacher. Jede Region im Irak leidet am selben Problem, dass die Armen von den Reichen beraubt werden.
Ihre Arbeit "Chicago Boys" bezieht sich im Titel auf eine Gruppe von Ökonomen, die vor 50 Jahren Chile als Experimentierfeld für ihr ultraliberales Wirtschaftskonzept benutzten. Ihr Projekt lädt etwa Profimusiker dazu ein, auf einem ihnen fremden Instrument zu spielen – oder Leute werden gebeten, in einer ihnen nicht geläufigen Sprache zu sprechen. Warum haben Sie diese Arbeit für das Museum in Sulaimaniyya ausgewählt?
Die Chicago Boys standen am Beginn eines Neoliberalismus, wie wir ihn heute – unter negativen Vorzeichen – verstehen. Was in Chile ab 1973 passierte, ist drei Jahrzehnte später im Irak ebenso geschehen: totale Deregulierung der Wirtschaft. Chicago Boys ist aber auch der Name einer 1970er-Revival-Band, die ich 2010 in London gegründet habe. Die Band spielte Songs der 1970er aus Afghanistan, Iran, Irak, England, Bangladesch, Polen, den Niederlanden und aus dem Libanon, dazu wurde Archivmaterial im Zusammenhang mit neoliberaler Politik präsentiert.
Wie passt das zusammen?
Es ging – und geht auch in Sulaimaniyya – darum, den Globalisierungsprozess durch die Brille der kulturellen Dynamik zu betrachten. Außerdem geht es mir immer wieder um alternative Formen, solche Prozesse zu erforschen. Wie ich ja eine Transformation am eigenen Leib erlebt habe, als ich dazu gezwungen wurde, die arabische Sprache zu lernen. Ich habe das als eine Form von körperlicher Gewalt erlebt. Schließlich wird beim Wechsel von einer Sprache zur anderen der Sprechapparat, der wie eine Architektur ist, ziemlich radikal umgeformt. Mein nächstes Projekt wird diesen Gedanken, dass man sozusagen seine Zunge verschluckt, wieder aufgreifen. Der Hintergrund der Arbeit sind Stauseen in der Türkei, bei denen Orte und Bauwerke unter Wasser verschwunden sind. Ich habe vor, Miniaturnachbildungen verschwundener Skulpturen zu verschlucken und dann eine Darmspiegelung über mich ergehen zu lassen. Während der Untersuchung wird der Arzt über die Artefakte, die auf dem Bildschirm erscheinen, sprechen, während ich einen Schlauch im Hals habe und nicht mitreden kann. Es wird also auch ein Machtgefälle markiert. In Deutschland will kein Arzt das Risiko eingehen, aber im Irak habe ich Mediziner gefunden, die diese Untersuchung machen.
Vor einigen Jahren war zu hören, dass Sie aufhören wollten mit der Kunst. Warum machen Sie jetzt doch weiter?
Was ich meinte, war: Ich habe aufgehört, ein Rädchen in der Kunstmaschine zu sein, die auf Hochtouren läuft, damit mehr und mehr Objekte für Sammler produziert werden. Es ist mir schleierhaft, wie eine Künstlerin oder ein Künstler 20 Werke pro Jahr herstellen kann. Aber andererseits ist es unumgänglich, dass Kunstschaffende Orte und Positionen einnehmen und Positives bewirken. Wenn wir jetzt zum Beispiel ein Museum besetzen – eigentlich ja zurückholen –, kann die Gegenseite das Haus nicht kapern. Ich mag den Satz: "It’s not good to do nothing". Nichtstun ist eben auch keine Lösung.