Hier entsteht einmal wieder ein neues Berlin. Wir sehen ein rot durchgestrichenes Straßenschild. Den Marx-Engels-Platz gibt es nicht mehr. Darüber thront das neue Schild mit der Aufschrift "Schloßplatz". Diese kurze Szene in Hito Steyerls einstündigem Videoessay "Die leere Mitte" illustriert den abermaligen historischen Bruch, den Berlin mit dem Mauerfall, der deutschen Wiedervereinigung und dem Aufstieg zur Bundeshauptstadt in den 1990er-Jahren erlebte.
Steyerls 1998 als Abschlussarbeit an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film entstandener Film ist jetzt im Heidelberger Kunstverein zu sehen. "Normalität" hat HDKV-Direktor Søren Grammel die von ihm kuratierte Hito-Steyerl-Einzelausstellung betitelt. Die gleichnamige, um die Jahrtausendwende geschaffene zehnteilige Kurzvideoreihe steht buchstäblich im Mittelpunkt der Schau. Eine Auswahl von sechs Filmen wird auf Flachbildschirmen im klassischen 3:4-Format gezeigt, die durch eine raumgreifende Metallrohrinstallation miteinander verbunden sind.
"Normalität" entstand als Reaktion auf den 1998 verübten Sprengstoffanschlag auf das Grab von Heinz Galinski (1912-1992), dem ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Alltäglich anmutende Aufnahmen deutscher Allerweltsorte in Kombination mit der nüchternen Wiedergabe bestürzender Fakten und Ereignisse im Untertitel: Im ersten Video definiert Steyerl die Dramaturgie der gesamten Reihe, in der sie den Anstieg rassistischer und antisemitischer Gewalt in den 1990er-Jahren in den Blick nimmt.
Historische Tiefenbohrungen und luzide Gegenwartskritik
In "Normalität" genügt eine kurze Nahaufnahme von Galinskis Grab, um die ganze Dimension des Hasses zu verdeutlichen: Infolge der Explosion zieht sich ein tiefer Riss längs und quer durch den Grabstein. Die in "Normalität 2" eingeblendete Sentenz aus Walter Benjamins kurz vor seinem Freitod niedergeschriebenen Thesen "Über den Begriff der Geschichte" erweist sich als prophetisch: "Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört."
Dabei war man sich in den 1990ern doch vielerorts sicher, die liberale Demokratie habe umfassend gesiegt. Hito Steyerls skeptisch-distanzierter Blick auf diese Dekade erscheint aus heutiger Perspektive umso hellsichtiger. Davon zeugt auch ihr eingangs erwähnter Videoessay "Die leere Mitte", der in Heidelberg auf einer großformatigen 3:4-LED-Wand zu sehen ist. Die im Kalten Krieg zum "Todesstreifen" verkommene Brache rund um den Potsdamer Platz in Berlin nimmt Steyerl zum Ausgangspunkt für historische Tiefenbohrungen und luzide Gegenwartskritik.
Von 1939 bis 1949 stand dort etwa die von Albert Speer entworfene "Neue Reichskanzlei" der Nazis. Auf einer von Steyerl gefilmten Stadtführung erfahren wir, dass einige Bunkeranlagen der NS-Machtzentrale den Zweiten Weltkrieg und den anschließenden Abriss des Gebäudekomplexes überstanden hatten. Steyerl nimmt aber auch die Rolle von Konzernen wie Daimler-Benz in den Blick, der von Anfang an mit dem NS-Regime kooperierte, zu einem wichtigen Rüstungsbetrieb aufstieg und nach der Wende Grundstücke rund um den Potsdamer Platz zu Spottpreisen erwerben konnte.
Die steril-optimistisch wirkenden Immobiliensimulationen auf den dortigen Bauschildern bilden einen harten Kontrast zu den tiefliegenden historischen Schichten. Dass die Großbaustelle Potsdamer Platz nur durch den Einsatz schlecht bezahlter ausländischer Bauarbeiter bewältigt werden konnte, thematisiert Steyerl ebenso wie fremdenfeindliche Ausschreitungen während einer Demonstration der Gewerkschaft IG Bau.
Hito Steyerls Arbeiten aus der Zeit um die Jahrtausendwende stehen in Heidelberg bewusst im Fokus, wie Søren Grammel betont. Damit reagiere die Schau auf den jüngsten Aufstieg rechter Gewalt, Ideologien und Parteien sowie auf die "Normalisierung rechtsextremer Politiken". Steyerls frühe Filme transportieren eine Art Anti-Ästhetik: Sie wirken mitunter unscharf, verwackelt und braunstichig wie alte Knipskamerabilder, die man seit 20 Jahren nicht mehr aus dem Fotoalbum geholt hat.
Als Zeitkapsel haben sie uns aber einiges zu sagen: Denn Hito Steyerl zeigt die Vorgeschichte der umfassenden politischen Eskalation, in der wir uns heute allzu selbstverständlich eingerichtet haben. Dass die von Steyerl schon damals entschieden angeprangerten Phänomene lange großflächig ignoriert wurden, rächt sich heute. In gewandelter und umso gefährlicherer Gestalt begegnen uns jetzt die von Steyerl festgehaltenen Geister der jüngsten Vergangenheit.