Herr Waters, Kernstück Ihrer aktuellen Ausstellung "Beverly Hills John" in London ist die Videoinstallation "Kiddie Flamingos", in der Sie Kinder das Drehbuch Ihres berüchtigtsten Films vorlesen lassen. Für das Original hat die 150-Kilo-Transe Divine vor laufender Kamera genüsslich einen Haufen Hundekot verspeist.
Das Remake ist die kindgerechte Fassung! Ich habe das Originaldrehbuch von allem Schmutz befreit und durch harmlose Ausdrücke ersetzt. Und die Kids haben den Film nie gesehen, sie haben also keine Ahnung. Aber meine Zuschauer kennen die Dialoge und denken: "Oh nein, gleich sagt die Kleine was Schlimmes!", und dann: passiert nichts. Das ist die wahre Subversion, wenn heutzutage jeder schockieren
will. Die Versuche, möglichst anstößig zu sein, wirken fast immer angestrengt. Also mache ich das Gegenteil. Ich werde mein größter Feind und zensiere mich selbst.
Und es ist Ihr erster Film seit "A Dirty Shame" vor mehr als zehn Jahren.
Nein, er ist nicht Teil meiner Filmografie. Es ist kein Film, es ist mein Kunstwerk Nummer 62. Natürlich könnte man ihn sich in einem Kino von Anfang bis Ende ansehen, aber er ist als Installation gedacht, die man betritt, um ein paar Minuten zu bleiben und dann weiterzugehen.
Er wird nicht in der Retrospektive laufen, die im September am British Film Institute stattfindet und "The Complete Films of John Waters (Every Goddam One of Them …)" verspricht?
Nein. Aber ein großes Kunstmuseum hat ihn gekauft und wird das in Kürze bekannt geben. Dafür werden in der Retrospektive auch alle meine frühen Filme zu sehen sein, die nie kommerziell ausgewertet wurden. Der Eintritt wird bei ihnen frei sein, ich sehe sie eher als historische Artefakte.
Auf einer Fotoarbeit Ihrer Ausstellung steht weiß auf schwarzem Grund: "I want to marry a white woman." Was hat es damit auf sich?
Wo ich das abfotografiert habe, weiß ich nicht mehr. Gibt es heute eine Situation, in der das gesagt werden könnte, ohne politisch völlig inkorrekt zu sein? Oder irgendeine Person, egal welcher Ethnie, die das tun würde? Ich dachte nein. Bis …
… der Fall Rachel Dolezal die Gemüter erhitzte?
Genau, die Frau, die vorgab, schwarz zu sein! Und sie hat sich als lesbisch geoutet. Wäre es politisch korrekt, wenn sie jetzt noch ein coming-in als Weiße hätte? Wenn man sein Gender wählen kann, warum soll man nicht sagen können, dass man sich "als schwarz identifiziert"? Aber es gab ja eine Menge anderer
Ungereimtheiten, etwa die angeblichen Hassmails mit Lynchdrohungen, die sie erhalten haben soll. Wer hat sie geschickt? Sie selbst? Niemand weiß das. Früher gab es Filme wie Elia Kazans "Pinky", in dem eine hellhäutige Afroamerikanerin als weiß durchging. Aber Dolezal dreht den Spieß jetzt um. In meinem Film "Hairspray" kommt ein Buch mit dem Titel "Black Like Me" vor. Es war in den 60er-Jahren bei Liberalen sehr hip, weil darin der weiße Journalist John Howard Griffin berichtet, wie er mit schwarz angemaltem Gesicht für einen Afroamerikaner gehalten und diskriminiert wurde. Wäre heute unmöglich, völlig politisch inkorrekt!
Mit den Grenzen, was gesagt werden darf, spielten Sie auch kürzlich in der Rede für die Abschlussklasse der Hochschule für Design in Rhode Island, die danach als Video im Internet für Furore sorgte.
Als ich im Saal auf die Bühne trat, hatte ich keine Ahnung, wie ich damit ankommen würde. Und danach ging es plötzlich viral! Es lief wirklich gut. Ich habe jetzt einen Ehrendoktor in Fine Arts, und das als Schulabbrecher und jemand, der im ersten Marihuanaskandal einer amerikanischen Universität in den 60ern nach einer Woche rausgeschmissen wurde. Jetzt will ich eine Festanstellung!
In Ihrer Rede ermunterten Sie die Studenten, sich nicht mehr als Außenseiter zu begreifen, sondern das System von innen zu erobern. Rachel Dolezal inszenierte sich ja genau als das, als Outsiderin.
Ja! Ist sie aber nicht! Kein Stück. Heute hält sich jeder für jemanden, der nicht dazugehört. Als ich jung war, wollte das niemand. Außer mir und den Dreamlanders, mit denen ich herumhing. Und heute? Wenn jeder meint, er sei so anders und Außenseiter, bin ich doch gern Insider.
Anderssein ist Mainstream. Der Olympiasieger Bruce Jenner nennt sich nach seinem Coming-out als Transgender Caitlyn und kommt aufs Cover der "Vanity Fair".
Und alle finden es toll! Aber ich nehme mir das Recht, mich auch darüber lustig zu machen. Jenner ist schließlich Republikaner! Das finde ich schockierend, nicht seine Geschlechtsanpassung. Ich habe seit einem halben Jahrhundert einen ganzen Haufen transsexueller Freunde, das ist für mich ein alter Hut. Natürlich sieht Jenner super aus – bei dem Budget, das "Vanity Fair" für Fotonachbearbeitungen ausgibt. Sieht er nicht arg getackert aus? Und er will erst mal keinen Sex haben. Klar, ich versteh' schon, dass er jetzt lesbisch ist. Wer will schon in eine offene Wunde geknallt werden? Da läuft lange nicht viel. Aber warum darüber reden? Weil es Teil einer Realityshow ist, für mich noch immer die niederste Form des Showbiz. Und darüber kann man sich absolut lustig machen.
Das sehen viele anders.
Ach, die Schwulen sind so empfindlich geworden, was politische Korrektheit angeht. RuPaul, Amerikas bekannteste Dragqueen, darf nicht mehr tranny sagen! Na gut, fand ich auch immer eher schwierig, den Begriff. Ich mochte immer chicks with dicks. Geht erst recht nicht mehr.
Aber ist die zunehmende Verwirklichung der Menschenrechte für sexuelle Minderheiten nicht auch positiv?
Natürlich! Zur Entscheidung des Supreme Court für die Gleichstellung der Ehe ließ Obama das White House in Regenbogenfarben anstrahlen. Großartig! Aber gleichzeitig werden Teile der Homos so furchtbar selbstgerecht. Wir müssen jetzt alle besser sein als die Heteros, die perfekten Bürger. Und es wird immer komplizierter, wie viele Buchstaben haben wir jetzt? LGBTI … Ich komm’ da selbst nicht mehr mit.
John Waters ist längst eine respektierte Ikone. Dabei haben Sie mehrfach gesagt, dass nicht Sie sich verändert haben, sondern die Gesellschaft.
Schauen Sie sich doch nur die vergangenen Monate an. Das Gleichstellungsurteil. Dinge, die wir vor Jahren noch für unmöglich gehalten hätten. Gleichzeitig hat das Oberste Gericht die Todesstrafe bestätigt. Und ich bin mindestens ebenso sehr gegen die Todesstrafe, wie ich für die Ehe für alle bin. Ich habe zwei gute Freunde, die verurteilt wurden und sich geändert haben. Es ist möglich. Müssen die Opfer deswegen vergeben? Nicht unbedingt. Als am Tag nach dem rassistischen Massaker in der Kirche in Charleston die Gemeindemitglieder sagten, sie vergeben dem Killer, dachte ich nur: Warum denn so eilig? Wartet doch mal eine Woche!
Wird der mutmaßliche Attentäter Dylann Roof im Fall einer Verurteilung die Todesstrafe bekommen?
Wenn es je einen Posterboy dafür gab, ist er es. Und er ist ein rassistisches Arschloch. Haben Sie ein Foto von ihm gesehen? Allein sein Friseur sollte lebenslänglich bekommen! Aber ich glaube nicht, dass es die richtige Entscheidung ist. Durch das Töten eines Menschen beweist man nicht, dass töten Unrecht ist.
Gibt es eine Humorgrenze, die Sie nicht überschreiten würden?
Klar, aber all mein Tun, ob in der Kunst, im Film, in Büchern oder auf der Bühne, dreht sich um diese Grenze. Was würde ich nicht tun? Witze über Konzentrationslager. Obwohl, einen guten habe ich gehört: Pia Zadora wird für ein Theaterstück als Anne Frank besetzt. Als sich der Vorhang öffnet, ruft das Publikum: "Sie ist auf dem Dachboden!" Aber natürlich kommt es immer auf den Kontext an: Wer sagt was wann und in welcher Situation? Schwierig wird es, einen Witz über eine Minorität zu machen, der man nicht angehört. Es geht, aber es ist sehr tricky.
Mitte August eröffnen Sie in Zürich eine weitere Soloausstellung. Sind Sie in Europa mittlerweile anerkannter als in Ihrer amerikanischen Heimat?
Nein, der Zürcher Arthouse-Mogul Matthias "This" Brunner ist weltweit mein wichtigster Sammler, er hat über die Jahre fast 40 meiner Werke gekauft. Und jetzt schenkt er alles dem Kunsthaus Zürich. Andere Museen haben bereits Arbeiten von mir gekauft, aber in dieser Konzentration ist das einmalig. Und ich werde im September dort meine One-Man-Show "This Filthy World" aufführen. I'm thrilled!