Kunstorgie von Hermann Nitsch

"Ist das perverser Kitsch oder ein schlechter LSD-Trip?"

Am Pfingstsonntag wird wieder ein Teil von Hermann Nitschs "Orgien Mysterien Theater" aufgeführt. Unsere Autorin war im vergangenen Jahr dabei. Eindrücke von einer Grenzerfahrung aus Fleisch, Blut und Kunst

"Ist es perverser Kitsch oder ein schlechter LSD-Trip?" fragt sich die 26-jährige Agate aus Deutschland, die hier zum ersten Mal teilnimmt. Sie weiß es nicht so genau, aber lustig scheint es schon zu sein. Ihr Gesicht ist getupft von den Blutspritzern, die sie bei der vorangegangenen Aktion abbekommen hat, und auch ihr weißes T-Shirt und die Hose sind über und über mit Blut beschmiert.

Es ist echt was los, hier beim Spektakel auf Schloss Prinzendorf im Niederösterreichischen Mistelbach. Die idyllische Spielstätte von Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater ist ein Ort intensivsten "Seins". Der Boden ist getränkt von Tierblut, zerstampften Früchten, Tomaten, herumliegenden Gedärmen, Innereien. Darüber Duftwolken aus Weihrauch, Tannenholz und Wacholder. Dies alles sind Requisiten für das "6-Tage-Spiel", das erst einmal 1998 in Gesamtlänge ausgetragen wurde. Damals hat der österreichische Aktionist und Performance-Künstler Hermann Nitsch, der in diesem April 83-jährig verstorben ist, diese Langfassung seines "Urdramas" aufgeführt, das das menschliche Leben in seiner Gesamtheit würdigt: Eine sechs Tage dauernde Inszenierung des Lebens, des Todes und der Auferstehung durch die Kunst.

Die zweite Fassung, die jetzt mit den ersten zwei Spieltagen zur Aufführung gelangte, hat der Künstler noch selbst als Partitur vollendet. Nun wird er von Rita Nitsch, der Witwe, drei Spielleitern und dem Dirigenten Andrea Cusumano vertreten. Er selbst hält Verbindung zum Geschehen aus seinem Grab gleich hinter den Schlossmauern.

100 Liter Blut und viele Kilo Organe

3000 Kilo Tomaten, 3000 Kilo Trauben, 1000 Liter Blut und dazu viele weitere Kilos an tierischen Organen werden im Laufe der zwei Tage bei den Aktionen eingesetzt: Gedärme, Leber, Lungen, Herzen, Urin, Eigelb. Wenn es heute nicht immer wieder regnen würde, wäre ein entsetzlicher Gestank zu riechen, der normalerweise von diesen verwesenden Materien ausgeht. Denn die mit Fleisch gefüllten Bottiche stehen seit Stunden bereit. So aber, durch den verdünnenden Regen, hält sich die olfaktorische Komponente des Spiels in Grenzen.

Dennoch sieht man gelegentlich einen der Akteure zurückschrecken, wenn eine zu eklige Geruchsbombe aufsteigt. "Die spiele meinen eine verherrlichung der schöpfung und ein unbedingtes erkennen unserer geborgenheit im kosmos", so Hermann Nitsch. In seiner Partitur und seinem theoretischen Opus zum Orgien-Mysterien Theater hielt er fest, was die Spiele sein sollen: Nichts weniger als ein umfassendes Gesamtkunstwerk zur Schöpfung, alle Sinne bis hin zum Trancezustand mit eingeschlossen.

"Leute erzählen, dass sie durch die Teilnahme an diesem Spiel ihre psychischen Probleme in den Griff bekommen haben", meint Agate weiter. Sie ist eine der 70 Teilnehmerinnen verschiedener Nationen, die hier unentgeltlich mitmachen. Die Gründe dafür sind vielfältig: als Kunsterfahrung, als Lernprozess, aus Verehrung für Nitsch oder weil's "Spaß macht". Es ist auf jeden Fall ein prägendes Erlebnis, das jede und jeder hier mitnimmt.

Eine Grenzerfahrung, von der man den Enkeln erzählen wird

Zunächst die Akteure selbst: Ihr Einsatz reicht von ans Kreuz gebunden und dabei mit Blut begossen werden über sogenanntes "wühlen" und zerren in den vollen Behältern, stampfen in den mit Tomaten, Blut und Trauben gefüllten Wannen und dazu mit stinkenden Gedärmen beworfen werden, bis zu nackt mit einer Monstranz auf dem Gelände spazieren. Eine halbe Stunde lang mit einer Augenbinde, aber gut umsorgt von den Kolleginnen, an einem Holzgerüst hängen ist sicherlich eine Grenzerfahrung, die man einmal seinen Enkeln erzählen wird.

Später wird man vielleicht auch an einer riesigen hölzernen Stiertrage, die von 38 Akteurinnen gehoben werden muss, in einer Prozession durch die Weinberge der Umgebung geführt. Einen weiteren Job besorgt auch der Metzger, der aus waghalsiger Höhe im Schloss von einem Podest aus die Tanzenden mit Lungen, Lebern und weiteren Schlachtabfällen bewirft, sodass diese im Hof laut und deftig aufklatschen. Kokett bleibt ein Stück Schweinedarm an der gusseisernen Schlosslaterne hängen und baumelt in fünf Metern Höhe.

Aber auch vom Publikum, das mal fasziniert, mal entgeistert, mal begeistert zuschaut und hin und wieder vor den aufspritzenden biologischen Säften zurückschreckt, wird einiges abverlangt. Fotos zu machen ist aus Personen- und vermarktungstechnischen Gründen verboten, was vielleicht gerade das Gute ist. Denn so bleibt das Erlebnis ungefiltert und real im Gedächtnis. Und man findet auch mehr Zeit für die Themen, die einen gerade bewegen: Im Herbst jetzt aber wirklich auf einen Segeltörn in die Dominikanische Republik. Oder für die Erörterung, ob sich Chlamydien und "die Syphilis" auf der Klobrille festsetzen und ob dies bei Infizierung der Partnerin oder des Partners ein Trennungsgrund sei.

Tierblut zu Kaffee und Kuchen

Das Mysterium des Seins wird vor allem auch über das leibliche Wohl verabreicht. Inkludiert in den 400 Euro teuren Teilnahmetickets ist auch ein voll umfassendes Verköstigungsprogramm. Denn das bodenständige Weinviertler Essen und die Nähe zur Nahrungskette – darunter sehr viel Fleisch und noch mehr Wein – gehören genauso zum existenziellen Gesamterlebnis, um das es hier geht.

Auch die Speisenfolge ist wie in der katholischen Kirche einem genauen Plan unterworfen: Am ersten Tag zu Mittag werden Paprikahendl mit Reis, Steirisches Wurzelfleisch mit Kartoffeln sowie Marillenknödel gereicht. Bei Kaffee und Kuchen am Nachmittag (Zucker steht in der mystischen Speisenbeschreibung bei Hermann Nitsch für Tod) werden auch kleine Gläschen mit metallisch schmeckendem Tierblut serviert, dazu noch rohes Fleisch.

Mit Vampirzähnen geht es dann zu den nächsten Programmpunkten, die einen rituellen Zyklus von "Dyonisos 1" zu "Dyonisos 2" umfassen. So richtig scheint keiner mehr durchzusteigen, wo gerade welche Aktion im Gange ist, aber am späten Nachmittag sind die "Geschehnisse" definitiv am Höhepunkt: Hier hängt ein Akteur am Kreuz, vor ihm angebunden ein ausgeweidetes Schwein, das ständig mit Blut und Urin begossen wird, in einer Container-großen Tonne tanzen zehn Akteurinnen und stampfen in roter Soße, und vorne kommen schon das nächste Kreuz und das nächste Schwein.

Dazwischen kräht der Hahn

Wenn die tschechische Blaskapelle nicht spielt, dröhnt das hundertköpfige Orchester, mehrere Gongs werden regelmäßig geschlagen, ein Synthesizer vibriert permanent, dazwischen kräht der Hahn. Prinzendorf brummt in einem ohrenbetäubenden, orgiastisch-archaischen Treiben.

Die fünf Kirchenglocken, die an einem Schlagbaum gezogen werden müssen, tönen immer zu den besonders dramatischen Momenten: Zur rituellen Kastration etwa oder zur Tötung des Adonis. Von einem eigenen Hochstand aus liefert der italienische Künstler und Dirigent Andrea Cusumano, von dem Nitschs Aktionen seit vielen Jahren musikalisch geleitet werden, die Offs und Ons für den Klang.

Viele der hier Teilnehmenden sind nicht zum ersten Mal bei diesem Einsatz, der jedes konventionelle Rollenspiel und auch viele Reach-Out-Programme von Museen blass aussehen lässt. Die Erfahrung mit den internationalen Gästen – viele kommen aus dem Umfeld der Fondazione Morra in Neapel, die seit Jahren mit Nitsch arbeitet, aus Kanada oder Deutschland – macht einen eigenen Reiz dieser Veranstaltung aus. Provinziell ist es in Prinzendorf nicht.

Vorreiter der Hyperperformance

Was hat sich verändert in den 24 Jahren seit dem ersten "6-Tage-Spiel"? Damals wurde Hermann Nitsch der Künstlerstatus von der feindseligen österreichischen Boulevardpresse durchwegs abgesprochen, indem er konsequent als "Künstler" in Gänsefüßchen bezeichnet wurde. FPÖ, Tierschützer und die "Kronenzeitung" zogen alle gleichermaßen gegen ihn zu Felde. Das ist nun definitiv anders. Im Ranking der Wiener Aktionisten, die heute mehrheitlich gut im Kunstmarkt integriert sind, ist Nitsch derzeit bei weitem der erfolgreichste. Und in Zeiten von Hyperperformance sieht man ihn auch eher als einen Vorreiter dieser Bewegung denn als kuriosen Dilettanten.

Aber auch dies war früher anders: Die Akteurinnen und Akteure des Orgien-Mysterien-Spektakels sind selbstbewusster geworden. 2022 ist auch das Jahr mit dem Auftritt des ersten Mädchens mit Bauchtattoo am Kreuz. Zumindest Agate ist happy, dass sie diejenige ist, die dieses Tabu gebrochen hat.

Dies ist die aktualisierte Version eines Artikels aus dem August 2022.