Herr Vogtherr, von London nach Hamburg zu kommen, stellen wir uns nicht ganz einfach vor. Was vermissen Sie aus Ihrer Londoner Zeit, was schätzen Sie an Hamburg?
Ich fand den Übergang für mich sehr einfach und auch sehr schön. Hamburg hat ein Format, das mir sehr liegt. Ich fühle mich hier sehr wohl, und ich finde es ganz auffallend, wie viel besser die Lebensqualität in Hamburg ist als in London. Und dann kommt natürlich noch hinzu, dass sich London und Großbritannien gerade sehr zum Unschönen verändern. Das merkt man zwar in London weniger als an anderen Orten, aber man merkt es leider eben auch dort.
Sie sind jetzt rund 100 Tage im Amt. Können Sie schon sagen, in welche Richtung Sie die Kunsthalle entwickeln möchten?
Worüber ich gern rede, das sind Leitideale. Das eine ist die Rolle der Kunsthalle als sozialer Ort. Ich fand es sehr augenöffnend, als ich hier neu war und in verschiedene Richtungen von der Kunsthalle in die Stadt ging. Es war für mich erstaunlich, dass man in jeder der vier Richtungen eine völlig andere Stadt vorfindet. Man trifft auf vier verschiedene soziale Profile: Geschäftsort, Bahnhofsviertel, St. Georg und dann die Alster. Das sagt schon alles, was man am Museum im Auge haben müsste, und wo die Kunsthalle etwas zusammenbringen kann.
Gibt es da schon Strategien?
Ich beobachte zunächst und werde erst einmal Zeit brauchen für Gespräche. Das heißt, ich möchte mich hier mit denen, die man im Englischen "Stakeholders" nennt – alle, die an der Kunsthalle ein Interesse haben könnten –, treffen, um nachzuhören, wie sie die Dinge wahrnehmen.
Wer ist das?
Das geht vom Schauspielhaus bis zum Quartiershauptmann. Das ist das eine. Das zweite ist, dass wir mit offenen partizipatorischen Formen experimentieren wollen. Da sage ich auch ganz bewusst: "experimentieren". Wir müssen durch "Trial and Error" lernen. Wir haben eine sehr dynamische Bildungs- und Vermittlungsabteilung. Gemeinsam denken wir dort über neue Wege nach ...
Es geht also auch darum, neue Publikumskreise zu gewinnen?
Ja. Das ist ein Bereich, der mir sehr wichtig ist. Da gibt es natürlich schon viele gute Ideen im Haus, und ich bringe noch ein paar aus London mit, weil die Museen, was das angeht, dort sehr aktiv sind.
Welche Rolle werden in Zukunft Sonderausstellungen spielen? Sie geben sich ja, was diese Frage angeht, eher skeptisch und setzen verstärkt auf die Sammlung ...
Ich finde natürlich, dass sich der Ausstellungsmarkt zur Zeit überhitzt hat. Dennoch sind Ausstellungen ein extrem wichtiges Format. Die Hamburger Kunsthalle kann, von Werner Hofmann angefangen, eine ganz besonders interessante Tradition an Ausstellungen bieten, die es fortzusetzen gilt. Ich wünsche mir aber, dass die Ausstellungen zwei Dinge vereinen: Zum einen sollen sie sich sehr sichtbar auf unsere Sammlung beziehen. Das kann dialogisch sein, das kann aus einer Stärke heraus sein, aber es ist gut, wenn es da eine klare Beziehung gibt. Und das zweite ist, dass wir in unseren Ausstellungen sehr unterscheidbar sind. Das Problem ist nicht, dass es zu viele Ausstellungen gibt, sondern, dass es zu viele ähnliche Ausstellungen gibt.
Sie gelten ja in erster Linie als Experte für das 18. Jahrhundert. Interessieren Sie sich denn auch für die zeitgenössische Kunst?
Wenn man sich als Kunsthistoriker nicht für zeitgenössische Kunst interessiert, ist man im falschen Beruf. Es ist doch faszinierend und notwendig zu sehen, wie die Geschichte weitergeht, was der Beitrag unserer Generation sein wird. Allerdings sehe ich mich hier im Haus nicht als den Kurator für zeitgenössische Kunst. Als Direktor bin ich derjenige, der die verschiedenen Sammlungsbereiche vernetzt, zusammenbringt und ausbalanciert – und der auch gelegentlich herausfordert. Was ich betonen möchte, und das ist keine rhetorische Figur sondern für mich extrem wichtig – ist mein eigenes Forschungsgebiet. Mich interessiert das 18. Jahrhundert, weil es extrem modern ist. Es ist eine Epoche mit einer faszinierend grundsätzlichen intellektuellen Kuriosität, in der alles Bisherige in Frage gestellt wird, eine Haltung, die sich auch in Bildern äußert. Ich liebe an dieser Epoche ihre Kultur des Nachfragens und der Respektlosigkeit. Es ist auch eine Epoche, die ganz selbstverständlich international ist. Ich finde das 19. Jahrhundert da viel schwieriger, wo es die Kleinfamilie gibt, die politische Reaktion und die Auffassung, dass die Frau in die Küche gehört. Dagegen hat das 18. Jahrhundert etwas erfrischend Offenes. Aus der Aufklärung ist der Sprung in die zeitgenössische Kunst viel einfacher als aus der nachfolgenden Epoche heraus.
Wir leben in bewegten Zeiten. Rechtspopulistische Gruppierungen und Parteien stellen ja nicht zuletzt auch den international agierenden Kulturbetrieb in seiner jetzigen Form in Frage. Wie sollten die Museen darauf reagieren?
Es gibt da ein paar sehr gute und beeindruckende Reaktionen. Ein Beispiel war die Reaktion der Dresdner Kultureinrichtungen. Ein Banner an die Museen zu hängen mit der Aussage, "Der Stolz des Freistaats: ein Haus voller Ausländer", das fasst es prägnant zusammen. Unsere Aktionen müssen allerdings sehr spezifisch sein. Wenn wir hier damit anfangen, Plakate anzubringen, die nicht auf eine Situation oder Frage Bezug nehmen, dann helfen wir, glaube ich, eher der weiteren Spaltung der Bevölkerung. Ich denke, dass wir intelligent auf die jeweiligen Situationen reagieren müssen. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass unser Medium die Kunst ist: In der Sammlung sind die Themen Offenheit und Zerstörung beide sehr sichtbar – wir müssen das immer wieder herausarbeiten. Es ist klar, dass wir als Organisation für eine große Offenheit und Toleranz in der Kunst stehen.