Eigentlich inszeniert Milo Rau gerade "Wilhelm Tell" nach Friedrich Schiller im Schauspielhaus Zürich, Premiere ist am 23. April, das Plakat hat ihm die bekannte Schweizer Künstlerin Miriam Cahn gemalt. Schon in Cahns fleischfarbenen und geisterhaft verwischten, nackten Figuren wird klar, dass dieser Tell mehr von Gewalt als von Freiheit handeln wird. Als sei ihm so eine Theaterarbeit aber doch zu langweilig, begleitet Milo Rau die Probenarbeit mit Aktionen, wie sie Christoph Schlingensief hätten einfallen können.
Auf der Recherchereise zu seinem Tell habe er nach verschiedenen Freiheitsbegriffen in der Schweiz gesucht, sagt er bei einer Rauchpause in einem Hauseingang, in den wir kurz flüchten inmitten im Aktionstrubels zwischen ritueller Reinigung des Kunsthauses und Versteigerung von NFTs. Und auf dieser Reise hat Rau unter anderem Irma Frei gefunden, die erst vor einem Jahr anfing, ihre Geschichte zu erzählen. Vor etwa 60 Jahren hat die Vormundschaftsbehörde Frei von ihrer geschiedenen Mutter getrennt, erst in eine Familie, dann in ein Heim gesteckt, von wo aus sie in einer Fabrik von Egon G. Bührle arbeiten musste, ohne je eine Lohnabrechnung gesehen zu haben - eine Art Zwangsarbeit, in der Schweiz, lange nach dem Krieg. Die Geschichte passt zu Rau, zum Tell, zum Kunsthaus Zürich erst recht. Von Schiller zur großen Schweizer Provenienz-Debatte ist es für Milo Rau nur ein kleiner Schritt. Aber von vorne, oder: von ganz oben …
Im sechsten und obersten Stock des im Herbst eröffneten Chipperfield-Baus des Kunsthauses Zürich liegen zwei polare Kraftzentren nebeneinander. Zum einen läuft unterm Dach dieser Betonkirche eine Retrospektive zu Yoko Ono, in der Performances der 1960er- und 1970er-Jahre auf Video gezeigt oder re-inszeniert werden. Wer durch das gegenüberliegende Portal schreitet, verlässt den Sektor des Ono’schen Weltfriedens und tritt ein in die grandiose Sammlung von Egon G. Bührle, des 1957 verstorbenen Schweizer Waffenhändlers mit deutschem Migrationshintergrund und ersten und wichtigsten Mäzen des Kunsthauses. Da hängen ausschließlich Blue Chips wie Picasso, Van Gogh, Monet, Manet, und ein paar dürre Giacometti Bronzen darben in einer Vitrine. Man möchte gleich reinspringen, denn näher an einen Dagobert-Geldspeicher kann ein Museumsflügel nicht mehr kommen. Könnte allerdings sein, dass die Haut danach eher blutrot statt goldgelb glänzt.
Schamane im Kunsthaus
Good vibes, bad vibes: Ob die hohen Schreie von Yoko Ono und die ironischen Militärsalute ihres Gatten John Lennon gegen die Bührle-Sammlung gerichtet sind, wäre ein krass subtiler kuratorischer move, dem man dem Kunsthaus nicht unterstellen sollte. Denn die Debatte über die Herkunft einzelner Bilder und ihre Rückgabe reißt nicht so richtig ab und überschattet seit der Eröffnung des Prunkbaus gegenüber des Stammhauses die reine Freude.
Dass Bührles Vermögen auch auf seinen Geschäften mit Nazi-Deutschland beruhte, diskutiert man in der Schweiz schon mindestens ein halbes Jahrhundert lang. Doch besonders sauer stieß in den letzten Monaten auf, dass ausgerechnet die rot-grüne Zürcher Stadtregierung der Bührle-Stiftung die Provenienzforschung sozusagen selbst überließ. Anfragen von Erben und Erbinnen wie etwa Maeva Emden an die Stadtverwaltung, deren Großvater ein Monet-Bild unter Druck der Verfolgung an Bührle verkauft hatte, leitete die Regierung einfach an die Bührle-Stiftung weiter. Die hatte somit die Möglichkeit, sich selbst reinzuwaschen, sich zu kümmern oder auch nicht zu kümmern. Niemand wollte den immerhin mit 100 Millionen öffentlich mitfinanzierten Neubau gefährden, dessen Kernstück eben die Bührle-Bilder bilden, die erstmals in dieser Breite im Kunsthaus zu sehen sind. Seither sprechen viele vor Ort, die "Neue Zürcher Zeitung" explizit ausgenommen, davon, dass nicht die kunsthistorisch spektakuläre Bührle-Sammlung ins Kunsthaus gewandert sei, sondern im Gegenteil, das Kunsthaus sei in die teilweise mit Blutgeld bezahlte Bührle-Sammlung marschiert.
Milo Rau hat nun eine verblüffende Lösung gefunden, auf die man viel früher hätte kommen können: Ein Schamane mitsam Gehilfinnen und Gehilfen haben im Foyer des Chipperfield-Anbaus die Arme ausgebreitet, haben dabei nach ein paar Minuten etwas geschwankt, und schon war die negative Energie verschwunden. Bei andern Aktionen, für die Rau den deutschen Schamane Karl-Heinz Betzemeier verpflichtete, ging es lauter zu und her, ist zu hören. Auch mehr Augenverdrehen sei im Spiel gewesen. In Zürich haben sich Karl-Heinz Betzemeier und Co. für eine schweizerisch zurückhaltende Reinigung entschieden. Gerahmt wurde die recht kurze Performance von zwei als Blumenkinder verkleideten Schauspielerin des Tell-Ensembles, Maja Beckmann und Maya Alban-Zapata, die einen wütenden Text vorlasen. Auch in der Runde zugegen: eine Consent Coach, die die Tell-Produktion begleitet. Niemand kam zu Schaden. Auch nicht das Kunsthaus, denn es wurde ja nun gereinigt von den negativen Energien.
Menschen, die der Geschichte ein Gesicht geben
Weniger blumig performativ, aber umso eindringlicher geriet der zweite Akt dieses aktionistischen Vorabends. In einem Kunstraum in der Hottingerstraße auf dem selben Block wie das Schahauspielhaus sprachen der Historiker Erich Keller, der mit seinem Buch "Das kontaminierte Museum" die aktuelle Bührle-Debatte im letzten Jahr entscheidend anstieß, die in Chile aufgewachsene Erbin Maeva Emden erzählte von ihrem langen Weg, das Bild ihres Großvaters zurückzugewinnen. Und es sprach, auf Zürichdeutsch, Irma Frei. Vermutlich wird sie ihre Rede auf der Bühne des Schauspielhaus im "Wilhelm Tell" ähnlich halten. In klaren, fast kühl vorgetragenen Sätzen erzählte die gut bürgerlich gekleidete Irma Frei von der übergriffigen Erniedrigung durch die Vormundschaftsbehörde und der gnadenlosen Ausbeutung in der Bührle-Fabrik. Dafür habe sich noch nie überhaupt jemand entschuldigt, weder der Staat noch die Firma oder ihre Stiftung. Es war der realste Moment dieses Abends, und realness ist Raus größte Stärke.
Danach ging es dann leider noch um NFTs, dem etwas verdutzten Publikum wurde ein Crashkurs in NFT und Kryptowährung gegeben. Miriam Cahn, deren Bilder auch im Kunsthaus zu sehen sind, wollte Ende letzten Jahres ihre Bilder aus der Sammlung abziehen, mit zum Teil eigenen Geld. Das ließ sich nicht realisieren. Im Kunstraun sind nun Kopien dieser Bilder zu sehen. Zudem hat Cahn Slogans zwei Bilder entworfen, die nun als NFTs versteigern werden und deren Erlös einer Gruppierung zugute kommt, die sich um Regularisierung von Papierlosen kümmert. Die NFTs zeigen Irma Frei mit einem schweren Stein, den sie als Last trägt, wie sie vor einem Monet steht. Cahns Überschrift, von Hand über die Fotografie gemalt: No Bührle, Yes Monet.
Vor dem Kunstraum wird ein Transparent noch deutlicher: "Hängt den Bührle an ein Schnürle." Nun, der Mann ist 1956 gestorben. Und ob Krypto nicht in naher Zukunft zu Verwerfungen für Millionen von Anlegerinnen und Anlegern führen wird, weiß wohl erst der oder die nächste Milo Rau. Der gerade aktuelle Rau jedenfalls hat nach einem halben Jahr der Bührle-Debatte etwas denkbar Einfaches geschafft: Menschen gefunden, die der Geschichte ein Gesicht geben, ein Bild: Irma Frei, und das ist kein Künstlerinnenname.