Liebe Liesel,
Wien!
Ja, Wien, liebe Liesel, ist die einzige Stadt der Welt, die keine Enttäuschung ist.
Hier sieht alles so aus, so wie, wie wir es uns vorgestellt haben.
Es gibt alles, was wir doch immer für uns wollten.
Zum Beispiel gibt es:
Gemischtwarenschwemme
(was ist das?)
und
Lichtspielhäuser
(so hell!)
und
die besten Museen
(ich hab’ hundert schöne tote Kröten gesehen, liebe Liesel)
und
ich hab’ genug
Powidelgolatschen
und
Topfengolatschen
und
Schaumschnitte
und
Sachertorte
und
Zwetschgenknödel
und
Marillenknödel
und
Rumpunschwürfel
und
Erdbeersahnetorte gegessen für jede geistige Umnachtung.
Ich weiß doch, wir gehen zu Grunde
am Essen
und so weiter
aber
alles ist alt hier
und die Ampeln ticken noch so wie früher, als
Elektrizität noch ein Wunder war.
Weißt Du Liesel, hier ist alles gut!
Hier kann man üben, einsam zu sein, so, wie ich es wollte,
du weißt doch,
ich wollte nichts mehr als einsam sein
inmitten von Torten.
Die Leute reden mehr als sie sagen hier, so wie in Italien.
Das mag ich, denn man kann auf schlechte Art vereinsamen
an wenigen Worten.
Man braucht doch Geräusch, liebe Liesel,
man braucht doch ein Krötenmeer, liebe Liesel,
zum Einschlafen
nach so viel Zucker.
Man hört hier
Pfennigabsätze auf dem Kopfsteinpflaster und
Schirme, die sich gegen den blauen Regen spannen, und
die Gebrechen alter Damen aus den Abflüssen
überall
die beste Kröte schaut von den halbabgerissenen Wahlplakaten
so glatt
die alten Frauen möchten sie sich am liebsten
zwischen ihre Beine stecken
ihre gelbe Gifthaut an sich reiben
sie wieder
zurückstecken
in ihre
Topfengolatschen
Jungfräulichkeit
Niemand schreibt mehr Karten, liebe Liesel.
Und niemand hört einem zu, wenn man nicht spricht.
Ich möcht’ mit einer Kröte schlafen
heute Nacht.
Liebe Liesel, bitte hol mich ab.