Zu mindestens 70 Prozent bestehen wir Menschen aus Wasser. Wir definieren uns allzuoft über Grund und Boden, obwohl wir wie alles Leben ja eigentlich aus dem Meer kommen. Im Gropius Bau blicken jetzt zwei Ausstellungen primär auf diesen Lebens- und Kulturraum. In den ersten Stock des Ausstellungshauses ist der aus Australien stammende Künstler Daniel Boyd eingezogen, dessen Beziehung zu Ozeanien sich in seinen Bildern wiederspiegelt. Parallel dazu widmet sich die Gruppenschau "Indigo Waves and Other Stories: Re-Navigating the Afrasian Sea and Notions of Diaspora" im Erdgeschoss dem Indischen Ozean als verbindendes Element zwischen Afrika und Asien.
Hunderte von Sepiaschalen sind in der Ausstellung gestrandet. Die aus Seoul stammende, in Berlin lebende Künstlerin Jeewi Lee hat die knochigen Hinterlassenschaften von Tintenfischen im Senegal gesammelt, mit Kupfer überzogen und auf einem weißen Podest ausgelegt. An den Wänden sind Abdrücke der Schulpe auf Papier zu sehen.
Für Lee sind die Weichtierknochen Speicher von Erinnerungen. Es sind mehr oder weniger lesbare Geschichten, aus denen sich die Schau "Indigo Waves" zusammensetzt. 25 Künstlerinnen und Künstler widmen sich dem Meer, das den afrikanischen und den asiatischen Kontinent trennt und zugleich verbindet.
Von der Insel aus die Welt lesen
"Vergesslichkeit ist nicht nur ein politischer Mechanismus", schrieb Françoise Vergès in einem Essay zur Documenta 14, "sondern das Ergebnis wirtschaftlicher und politischer Entscheidungen. Ginge es nach ihr gäbe es keinen Grund, Ungleichheit und Unsicherheit zu beseitigen. Sie sind schließlich die Säulen neoliberaler Logik." In Paris geboren, wuchs Vergès auf La Réunion auf: "Von dieser kleinen Insel im Indischen Ozean aus las ich die Welt (...), die Welt der Solidaritäts-Routen innerhalb der antiimperialistischen Bewegungen, die Welt der Musik und die Literatur und Bilder in den unterschiedlichen Hemisphären des Südens. Aus dieser Perspektive lag Europa kulturell und geografisch an der Peripherie."
Diesen Gedanken nimmt das Kuratorenduo Natasha Ginwala und Bonaventure Soh Bejeng auf. Im Zentrum der Schau steht das, was wir den globalen Süden nennen, während der koloniale Blick auf die Welt vermieden wird.
Jack Beng-Thi, 1951 ebenfalls auf La Réunion geboren, zeigt Buchskulpturen, die auf seinen Reisen zu den Inseln und Archipelen des Indischen Ozeans entstanden sind. Der Künstler verwendet Materialien wie Terrakotta, Pflanzenfaser und Vulkansteine, um auf organische Geschichten und heilige Geografie zu verweisen. "One Water, Many Lands" lautet der Titel einer Arbeit des indischen Künstlers Nikhil Chopra, die aus einer Performance und einer raumgreifenden Installation besteht. In mit Schlamm beschmutzten Baumwollkleidern liegt Chopra während seiner zwölfstündigen Aktion auf einer durch den Ausstellungsraum "treibenden" – mit Rädern versehenen – Plattform und malt mit tiefblauen und ockerfarbenen Pigmenten Wasserlandschaften auf Leinwände.
"Ein Schienenweg aus menschlichen Knochen"
Auf die berühmten Seerosen-Bilder von Claude Monet verweist der Kolumbianer Oscar Murillo, mit drei aus der Serie "Surge (social cataracts)" stammenden Malereien. Murillo verwendet zusammengenähte Leinwandstücke und drückt mittels nervöser blauer, grüner und roter Striche traumatische Unterströmungen aus dem kollektiven Gedächtnis aus: "Auf dem Grund des Atlantischen Ozeans gibt es einen Schienenweg aus menschlichen Knochen", dieses Zitat des US-Lyrikers Amiri Baraka liegt den Bildern ebenso zugrunde wie die Geschichte über Monet, der an Grauem Star litt, als er die Seerosen malte.
Murillo interpretiert das koloniale Unternehmen als Beeinträchtigung des Sehvermögens, das nach wie vor den Blick der Menschheit verschleiert. Die "Indigo Waves"-Schau wird – in Form eines zweiten Kapitels – auch im Berliner "Ausstellungslabor" Savvy Contemporary Wellen schlagen, die am 20. April eröffnet wird.
Auch in der Solopräsentation von Daniel Boyd kommt man mit borniertem Blick und starrer Perspektive nicht weiter. Die Vorfahren des 1982 im australischen Queensland geborenen Künstlers stammen aus der Südsee oder waren Aborigines. Auf den für die australischen Ureinwohner bedeutende Figur der Regenbogenschlange spielt Boyds Ausstellungstitel "Rainbow Serpent (Version)" an. Es gibt nicht die eine Regenbogenschlange, sondern lauter Versionen des Schöpfermythos. Und eben auch die westlichen Ethnologen und die Deutungshoheit, die sie sich anmaßen.
Erinnerung an die "Gestohlene Generation"
Boyds Bildquellen sind divers. Viele seiner Vorlagen stammen aus Ozeanien oder Australien, wobei der Künstler immer wieder "falsche" mit "authentischen" Bildern mischt. Zu sehen ist eine "Rebbelib"-Karte, anhand derer sich Bewohner der Marshallinseln über Wellengang und Strömungsverhältnisse informieren. Ebenso abstrakt wirkt eine auf einem Boyd-Gemälde wiedergegebene Sandzeichnung von der Insel Vanuatu, auf der ein Ururgroßvater des Künstlers lebte, bevor er nach Nord-Queensland verschleppt wurde, um auf den dortigen Zuckerrrohrplantagen zu schuften.
Ein anderes Bild zeigt den legendären Dreimaster Bounty – als Nachbau für den Hollywoodfilm "Meuterei auf der Bounty" 1962. Großformatig zitiert Boyd das von Sir Joshua Reynolds um 1776 gemalte "Portrait of Omai" – das Bildnis eines jungen Polynesiers in der Pose des Apollo Belvedere, als "edler Wilder".
Die koloniale Praxis, indigene Traditionen zu ignorieren, sie zu brechen und sie durch abendländische Vorstellungen zu ersetzen, ist für Boyd nichts Historisches, sondern tagtäglich spürbar: "Den Kindern der First Nations wurde westliche Kultur aufgezwungen", sagt der Künstler. Ein Querformat basiert auf einer Fotografie seiner Schwester, die sich für einen Tanz zurechtmacht. Das Bild erinnert an die "Gestohlene Generationen", die Kinder, die durch die australische Regierung (seit dem 19. Jahrhundert und bis in die 1970er hinein) gewaltsam von ihren Familien getrennt wurden.
Wiederaneignung als Form des Widerstands
Untergebracht in Pflegefamilien oder Missionsstationen wurde ihnen der Kontakt mit kulturellen Praxen der First Nations untersagt. Die Pointe des Bildes: Boyds Schwester wird den ihren Leuten aufgezwungenen Tanz weiter tanzen. Ein Akt, der gängige Vorstellungen von kulturellem Erbe und Autorschaft aushebelt – und Wiederaneignung als Form des Widerstands präsentiert.
Es ist kompliziert. Boyd spart sich die einfachen Antworten. Das spiegelt insbesondere auch seine Malweise, die an den Pointillismus eines Georges Seurat und auch an die "Desert paintings" von Aborigine-Künstlerinnen erinnert (und mit beidem wenig zu tun hat). Boyd malt zunächst das Motiv, das häufig von einer Fotovorlage stammt, auf die Leinwand, in einem zweiten Arbeitsschritt tüpfelt er klaren Archivkleber auf die Malschicht.
Nach der Trocknung des Klebers werden die Acryltropfen mit schwarzer Farbe ummalt. Durch das Tropfenraster schimmert das ursprüngliche Motiv. "Dahinter steht die Idee", sagt Boyd, "dass tausende kleine Linsen über die Bildoberfläche verteilt sind. Linsen, die das Licht einfangen. Ich möchte Bilder nicht als statische Objekte sehen, vielmehr soll das Publikum sich durch eine plurale Welt bewegen können."
Flirrendes Licht in der Traumzeit
Ein kleinformatiges, auf die beschriebene Weise bearbeitetes Porträt zeigt Édouard Glissant (1928-2011), den aus Martinique stammenden Philosophen und Dichter, der für sein Konzept des "Rechts auf Opazität und Differenz" bekannt wurde. Glissant argumentierte, dass Imperialismus und Kolonialismus der ganzen Welt westliche Vorstellungen von Transparenz aufgezwungen haben, was für kolonisierte Menschen jedoch bedeutete, kategorisiert und nach Vorurteilen bewertet zu werden.
Glissants Denken wurde zu einer wichtigen Referenz des Künstlers. Indem Boyd Licht und Dunkelheit – in Form geschwärzter Zwischenräume – in seinen Bildern gleichwertig behandelt, weist er auf den fließenden und fragmentarischen Charakter des Wissens hin.
Das Boyd-typische Raster findet sich auch auf der am Boden des Innenhofs angebrachten Spiegelfläche, über die sich die Besucherinnen und Besucher bewegen können; außerdem sind die Fenster im ersten Obergeschoss – hier sind die meisten der 44 Gemälde in lockerer Folge gehängt – mit gelöcherten Schwarzfolien beklebt. Das Licht flirrt, und nach einigem Verweilen in Boyds magischen Bildwelten hat man das Gefühl, in eine Traumzeit eingetaucht zu sein. Oder in einen Ozean der Geschichten. Mit der Gruppenausstellung "Indigo Waves" geht Daniel Boyds erste umfassende Schau in Europa jedenfalls eine wunderbare Verbindung ein.