Herr Oberender, was bedeutet Immersion?
Es bedeutet salopp gesagt "eintauchen". Immersion ist ein Schlüsselphänomen unserer Zeit, das die Erfahrung oder das Gefühl einer vollumfänglichen Einbettung in die eigene Umwelt beschreibt. Wenn diese Umwelt artifiziell ist, gehen wir also im Kunstwerk auf – es verschwindet, das Medium wird unsichtbar, wir sind "drin". Der Begriff hat viele Anwendungsbereiche. Neben neuen digitalen Technologien wie Virtual Reality lassen sich mit ihm besonders gut neue Erfahrungen beschreiben, die sich seit Mitte der 90er übergreifend in verschiedenen "analogen" Künsten herausgebildet haben. Dabei handelt es sich um Künste, die oft situativ funktionieren und statt singulärer Werke ganze Welten schaffen. Jede Form von Immersion ist verbunden mit Worldbuilding – sie duldet tendenziell kein "außen".
Der Begriff Immersion kam in den 90er-Jahren in Verbindung mit Virtual-Reality-Konzepten und Spieltheorie in Mode. Inwieweit ist er heute noch relevant?
Er ist einfach sehr robust, weil das Phänomen so alt ist wie die Kunst. Theoretiker wie Oliver Grau oder Joseph Nechvatal haben es bis in die Höhlen von Lascaux, die Welten des Rokoko und der Panoramen des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt. Die Digitalisierung macht das Trompe-l’œil begehbar, sie ändert nicht unsere Wahrnehmung, sondern unseren Zustand. Wobei die Frage, wo die Trennlinie zwischen meinem leiblichen und meinem digitalen Ich verläuft, ins Gleiten gerät – ein Wort, das schon Arthur Schnitzler gerne verwendete, um das Unwirklichwerden einer sehr intensiv erfahrenen Realität zu beschreiben. Der Begriff "Immersion" bringt dieses Gleiten auf den Punkt. In welcher Welt leben wir? Wie ist sie beschaffen? Und vor allem: Wer sind diejenigen, die diese Welten schaffen: Sind es wir, ist es Google oder sind es irgendwie ineinander greifende Algorithmen ...?
Interaktivität füttert heute die Algorithmen von Facebook, Airbnb und Online-Rankings. Ist aus der einst utopischen Idee nicht längst ein Geschäftsmodell geworden?
Absolut. Der Kapitalismus stirbt sehr erfolgreich, wie Benjamin sagte. Dieter Claessens und Richard Sennett haben viel darüber geschrieben, dass Kapitalismus nicht nur unsere Wirtschaftsform ist, sondern zur Kultur wurde. Die entscheidende Frage für mich als künstlerischer Leiter von "Immersion" ist: Welche Rolle kann die Kunst in diesen Zeiten einnehmen? Wie können wir emanzipative Kräfte fordern und fördern – über Alternativen nachdenken und Kritik entwickeln?
Das neue Format "Immersion. Analoge Künste im digitalen Zeitalter" folgt auf das Aus des Performing-Arts-Festival "Foreign Affairs" und das Ausscheiden von Matthias von Hartz. Inwieweit vollziehen die Festspiele damit eine programmatische Neuausrichtung?
Natürlich verändern sich die Festspiele durch "Immersion", aber das haben sie in den vorherigen Jahren auch getan – mal mehr, mal weniger nach außen erkennbar. Kein Jahr war wie das vorige. Mit "Immersion" möchte ich, zumindest auf einer Ebene der Festspielarbeit, aus den Zwängen einer Festivalstruktur ausbrechen. Mona el Gammals "Rhizomat" zeigen wir vier Monate am Stück. Das geht in keinem Festival.
Was erhoffen Sie sich von dem neuen Konzept?
Bewegungsfreiheit, andere Werkformen, ein Denken auf Dauer. Raus aus der Vergleichbarkeit. Wir haben kein Ensemble, aber wir bilden Familien und nutzen die Räume anders. Die Künstlerinnen und Künstler bekommen gute Arbeitsbedingungen und wir entfalten das Thema über einen Zeitraum, der auch für uns neu ist.
Mit der Installation "Rhizomat" wurde die Veranstaltungsreihe jetzt eröffnet. Wie hat das Publikum reagiert? Wie haben Sie selbst die Arbeit erlebt?
Sie sagen "Installation" und das stimmt irgendwie auch. Man kann durch sie wie durch eine Ausstellung gehen. Zugleich ist es ein neues Genre, ein narrative space. Ich habe diese Arbeit als sehr liebevoll erlebt – all die ausgesuchten Details, dieses stimmungstiefe Archiv einer aus der Zukunft geretteten Welt. Und irgendwie packt mich auch diese Geste sehr junger Leute, von einem Aufstand zu erzählen, einer Empörung, die jeder erlebt, wenn er allein und auf sich gestellt durch ihren dystopischen Parcour geht.
Worin sehen Sie den Unterschied zu einer Performance oder einem Happening?
Es gibt kein Publikum. Es geht zwar um Figuren – man selber ist ein von der Widerstandsbewegung "Auserwählter", man spielt also mit, auch wenn man nichts tun muss, man ist teilnehmender Besucher, Zeuge, aber empfindet sich nie als Publikum. Und genauso wenig gibt es Performer; es gibt nur den Tatort. Man trifft niemand, sondern auf Spuren – man ist, so würde ich es sagen, in W.G. Sebalds Kopf, nur dass er diesmal nach vorne träumt.
Ende November findet im Gropius-Bau die erste „Schule der Distanz“ statt. Soll immersive Kunst die Grenzen zwischen Kunstwerk und Betrachter aufheben oder neu vermessen?
Ich glaube, "immersive Kunst" gibt es gar nicht. Was, ganz zu Recht, als "immersiv" erlebt wird, hat sich über die Jahrhunderte in einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Ästhetiken wiedergefunden. Die Auflösung der Grenze zwischen Kunstwerk und Betrachter ist ein uralter und zentraler Topos der Kunst. Die spannende Frage ist, wie? Die großen Agenten immersiver Prozesse sind nicht die Künstler, sondern Google und Facebook, die wollen, dass wir ihre Welt nicht mehr verlassen – es geht um Kontrolle. Immersion raubt die Distanz, die für Reflexion nötig ist, sie überwältigt, was manchmal berauschend schön ist, zugleich aber auch blöde macht. Es sei denn, man nutzt dieses Eintauchen anders und deshalb ist die "Schule der Distanz" für uns eine sehr wichtige Experimentiereinrichtung.
Die Veranstaltungsreihe ist auf drei Jahre angelegt. Wie wird das Programm weitergehen? Worauf werden Sie die Schwerpunkte setzen?
Wir arbeiten an einem Narrativ, das sich über die drei Jahre entfalten soll. Große künstlerische Arbeiten sollen in jeweils mehrwöchigen Programmserien gezeigt werden, die hinsichtlich der Frage, was Immersion bedeutet, eine markante Position darstellen. Im Moment interessieren wir uns zum Beispiel sehr für Wolken – sowohl für die am Himmel als auch für die digitalen ...
Glauben Sie, dass sich das Museums- und Ausstellungswesen in den kommenden Jahren insgesamt wandeln wird – hin zu einem Erlebnis- und Erfahrungsraum?
Vielleicht ist das Wort "Installation" hilfreich, da sie den Raum ortsspezifisch und situationsbezogen begreift. "Gegenwart" lässt sich wahrscheinlich auch weiterhin durch Repräsentation "herstellen", um es paradox zu sagen. Deren Kehrseite sind situationistische Konzepte wie die von Tino Sehgal, Hannah Weinberger oder Ian Wilson. Sie kreieren andere Werkformen und durch Rituale und Regeln auch andere Räume als die black box des Theaters oder der white cube der Ausstellungen.