Goldrausch-Jubiläumsausstellung

So laut wie Sirenen

Im Berliner Kunstraum Kreuzberg/Bethanien ist Kunst wieder im Goldrausch. Sein 30-jähriges Bestehen feiert das gleichnamige feministische Projekt mit einer Jubiläumsausstellung - und fordert vielstimmig Gleichberechtigung ein

Sie ist wahrlich keine Hexe, wie sie im Buche steht. Mit Acrylnägeln und Absätzen bahnt sie sich ihren Weg durch die unwegsamen Landschaften des Waldes – weiches Geäst, Moos und Matsch – und bohrt sich in die robusten Elemente der Umgebung, um kurzzeitigen Halt zu finden, in die Stämme, Stricke und Steine. Das selbst geflochtene Netz aus Seilen dient ihr, der "Prepper Witch" in Rosanna Grafs Videoarbeit "The Super Bad", als doppeldeutiges Warnsignal: Es erschafft einen Schutzraum, der vor nahenden Gefahren durch Glockenschlag warnt und gleichermaßen einen Isolationsraum, der mit demselben Glockenschlag das Ende der Sicherheit einläutet. Ein schrecklich-schöner Doppelraum, in rosa-blaues Licht getaucht.

Präziser hätte der Titel der Ausstellung, die neben Rosanna Graf 14 weitere Positionen präsentiert, nicht gewählt werden können: Unter der Überschrift "Sirene" fordern die Beteiligten Gleichbehandlung und -berechtigung im Kunstbetrieb und fördern dabei gleichzeitig Vielstimmigkeit und Diversität im selbigen. Die gesamte Schau spielt mit ebendem ambivalenten Gefühlsparadigma wie "The Super Bad" und trifft zum 30-jährigen Jubiläum des Projekts Goldrausch im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien in Berlin nicht nur einen, sondern gleich mehrere Nerven des Zeitgeistes.

Über Klima, Gefühle und andere Widersprüche

Da ist beispielsweise Manja Eberts Installation "I'll be there" – eine interaktive Irreführung, die den spielerischen Charakter von Gesichtserkennungssoftware mit verzerrten Liedtext-Zitaten kontrastiert, deren vermeintliche Liebeserklärungen zu angsteinflößenden Stalker-Aussagen verkommen: "I'll be watching you" von The Police, "I want to spend each moment of the day with you" von Dusty Springfield bis hin zu "I saw your face in a crowded place" von James Blunt.

An anderer Stelle beschäftigt sich Chan Sook Choi mit der Kolonialisierung, Politisierung und Ausbeutung von Land durch menschliche Hand. Die Videoarbeit "Black Air" lässt Drohnenaufnahmen von strukturiertem Gelände in digital modifizierte Bilder überfließen. Das Publikum wird in ein bildgewaltiges Narrativ eingesponnen, das die Frage aufwirft, wie weit die Menschheit mit der Unterwerfung der Natur gehen würde, um Raum für sich zu beanspruchen. Was nach kosmischen Szenen und Aufnahmen von Propagandadörfern in der demilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südkorea bleibt, ist überwältigend und bedenklich zugleich.

Die von Surya Gied und Hannah Kruse kuratierte Goldrausch-Jubiläumsausstellung ist laut Kruse "nicht thematisch konzipiert", wie sie im Monopol-Gespräch erklärt. Trotzdem gebe es Synergien, die Kuratorin sieht inhaltliche Parallelen: die Macht der Gefühle, die Folgen der Ausbeutung der Erde und ihrer Ressourcen oder die Ambivalenz von Offenheit und Verletzlichkeit.

Nicht nur in den verhandelten Inhalten, auch in ihren Wirkungsarten weisen die Arbeiten komplementäre Kräfte auf: Ob Julia Lübbeckes archivarische Collage-Skulptur des intersektionalen Feminismus, Gosia Lehmanns intermediale Untersuchung der Verbindung zwischen Finanzspekulation und Schamanismus oder Emily Hunts in Keramik geformtes Refugium der Vielfalt – all diese Arbeiten verbindet ihre zugleich akkurate Beobachtungsgabe einer verheißungsvollen Gegenwart mit einer ebenso hoffnungsvollen Perspektive auf eine bessere Zukunft - eine gerechte, eine gleichberechtigende.

Ein fortwährendes Bestreben

Genau darauf zielt Goldrausch ab. Das renommierte feministische Projekt ist mehr als nur eine Ausstellung, die ausschließlich weiblich gelesenen Kunstschaffenden eine Plattform bietet. Gegen die hegemonialen Strukturen der Kunstwelt ankämpfend bietet Goldrausch den ausgewählten Künstlerinnen ein einjähriges Professionalisierungs-Programm, das Hintergrundwissen und berufliche Sachkenntnis vermittelt und Netzwerke erschließt. Ehemalige Teilnehmerinnen des Projektes – die Ex-Goldies, wie sie sich selbst nennen – sind unter anderen Pauline Curnier Jardin, Monica Bonvicini, Maria Eichhorn oder Henrike Naumann. Künstlerinnen, die mittlerweile ihren festen Platz in etablierten Institutionen haben. Oder Friederike Feldmann und Heike Baranowski, die "als Professorinnen Vorbilder für neue Generationen von Künstlerinnen" sind, wie Hannah Kruse sagt.

Manch ein in Privilegien badender Zweifler mag sich fragen: Warum all das? Schon so lange wird für Gleichberechtigung gekämpft, ist sie nicht längst erreicht? Gibt es nicht ärgere, dringendere Anliegen, für die es sich einzusetzen lohnt? Doch wer so denkt, macht sich mit diesem whataboutism selbst zum Teil des Problems.

In seinem 2020 erschienenen Bericht veröffentlichte der deutsche Kulturrat Statistiken, die die Ungleichbehandlung in der Kunstwelt beziffern: Der Gender Pay Gap 2019 liegt in der Berufsgruppe Bildende Kunst bei 28 Prozent, unverändert seit der letzten Erhebung 2016. Im Bereich der selbstständigen Kunstschaffenden sind die Entwicklungen teilweise noch drastischer. In den Sparten "Wort", "Bildende Kunst" und "Musik" wuchs die Einkommensdifferenz zwischen männlichen und weiblichen Versicherten in der Künstlersozialkasse (KSK) an, erreichte in der Sparte "Wort" sogar mit 6.290 Euro einen Höchststand. Nur im Bereich der "Darstellenden Künste" lässt sich ein kontinuierlicher Abwärtstrend nachvollziehen – die Einkommensschere schließt sich hier mehr und mehr.

Woran mag das wiederum liegen? Hannah Kruse hält die zitierte Einkommensverbesserung der Frauen in den darstellenden Künsten für "einen einmaligen Ausreißer": "Ungleichförmige Entwicklung entsteht durch unterschiedliche Fachkulturen und durch solidarisches Handeln. Das ist oft einfacher, wenn Künste in Gemeinschaft oder Ensembles (Theater, Musik) ausgeübt werden, im Gegensatz bei klassischen Solo-Selbständigen (Wort und Kunst)." Auch Stephan Behrmann, Geschäftsführer des Bundesverbandes für Freie Darstellende Künste (BFDK), sieht ähnliche Ursachen für diesen Trend-Ausreißer. Allerdings unterscheidet Behrmann im Interview mit Monopol klar die tendenziell kollektive Arbeit freier Kunstschaffender von institutionellen Räumen: "Das Problem ist auch in unserem Bereich noch nicht gelöst, aber es ist eine weit weniger harte Arbeitsrealität als beispielsweise in institutionellen Theatern." 

Der BFDK engagiert sich in dem von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien initiierten Arbeitskreis Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien und ist mit der Vorsitzenden Janina Benduski als Mentorin im Mentorinnen-Programm des Deutschen Kulturrats bereits politisch verankert. Auch die jährlich stattfindenden "Burning Issues"-Konferenzen theaterschaffender Frauen oder die selbst gesetzte Regiefrauenquote des Berliner Theatertreffens sind deutliche Ergebnisse eines Besserungstrends in den darstellenden Künsten. Doch es ist überall noch Luft nach oben.

Ein besonderer Ort für ein besonderes Programm

Hier, im ehemaligen Bethanien-Krankenhaus wird nach dieser Luft geschnappt. Da, wo auch der BFDK seinen Sitz hat und ebenda, wo vor 30 Jahren die erste Goldrausch-Ausstellung stattfand. Mit diesem Jubiläum wird nicht nur ein zeitgenössisches Thema bearbeitet, sondern auch mit zeitgenössischen Mitteln Aufmerksamkeit für die Involvierten gewährleistet. Neben Videogesprächen mit je fünf Künstlerinnen werden drei Radio-Sendungen in Kooperation mit Cashmere Radio, einer experimentellen Community-Radio-Station aus Berlin-Lichtenberg, die Ausstellungsthemen inhaltlich aufgreifen und vertiefen. Auf der Website des Projektes soll die Ausstellung bis zum voraussichtlichen Ende des Teil-Lockdowns am 1. Dezember über einen 3D-Rundgang zugänglich gemacht werden, ein Teaser-Film und diverse Videodokumente tragen die Schau in vielfältige Medienformate weiter.

Zum Jubiläum organisiert Kira Dell, Kunsthistorikerin und Projektkoordinatorin, zusammen mit der Künstlerin Yalda Afsah, Alumna des Goldrausch-Programms, am 5. und 6. Dezember 2020 ein Online-Screening mit Filmen von früheren Teilnehmerinnen zu den Themen Kollaboration, Zusammenhalt und Selbstorganisation.

Auch der Ausstellungskatalog weist eine Besonderheit auf und setzt sich aus 15 Einzelkatalogen zusammen, die für jede der künstlerischen Positionen individuell geschaffen wurden. Auch in den Begleittexten und ihrer Form bildet sich die Vielstimmigkeit der Goldrausch-Künstlerinnen und dahinterstehenden Initiatorinnen der Ausstellung "Sirene" ab.

Und wer glaubt, dass mit einer Sirene der falsche Ton getroffen werde, um Polyphonie zu fordern und auf die aufgezählten Missstände aufmerksam zu machen, sollte noch etwas genauer hinhören. Goldrausch-Kuratorin Hannah Kruse: "Auch die Klänge der Sirenen in aller Welt sind sehr divers und haben in unterschiedlichen Gesellschaften andere Bedeutungen. So laut wie Sirenen fordern wir ein, dass Vielfalt und Gleichberechtigung verwirklicht werden müssen." In Hinblick auf die Erreichung dieses Ziels ist die Kuratorin optimistisch, "dass in 30 Jahren die Arbeit getan sein wird, das Goldrausch Künstlerinnenprojekt sich selbst überflüssig gemacht hat und wir das ganze Bild sehen."