Kunst mit einem zeitlich begrenzten Versprechen lädt zum Pilgern ein. In Corona-Zeiten wird die Wallfahrt bis auf Weiteres aber nicht nach Venedig, Basel oder Pristina gehen, sondern dieses Mal nach Rüsselsheim. Hier befindet sich gerade eine von weltweit 1.000 Glückskeks-Installationen von Félix González-Torres. Beate Kemfert freut sich: Wie ein Gruß aus den 90er Jahren habe sich das angefühlt, erklärt die Direktorin der Opelvillen, als ihr Haus das Werk des 1996 verstorbenen Konzeptkünstlers Ende Mai aufbauen durfte.
Mario Kramer, Sammlungsleiter am Frankfurter MMK, hatte die Einladung zur temporären Installation erhalten und die sozusagen treuhänderisch an die Rüsselsheimer Ausstellungsvilla weitergereicht. Dort sind aktuell die "Liebesgrüße aus Havanna" mit kubanischer Kunst zu sehen, die durch den kubanisch-amerikanischen Künstler nun einen hochkarätigen Auftakt erhalten, der dank des unspektakulären Settingsals solcher aber recht bescheiden daherkommt: Seinen Glückskeks-Haufen hat man in eine kleine Ecke auf dem Weg zwischen Eingang und Kasse geschüttet, wo sich eigentlich die (coronabedingt nun leere) Garderobe befindet. Die klassische Ausstellungswandbeschriftung sucht man vergebens – so ahnt mancher Besucher auf den ersten Blick gar nicht, dass er es hier mit der Arbeit eines der erfolgreichsten Konzeptkünstler der vergangenen Dekaden zu tun hat. "Viele trauen sich gar nicht, einen mitzunehmen," beschreibt Kemfert die Reaktionen des örtlichen Ausstellungspublikums. Es gebe aber auch Pilgerer, die gezielt fürs Kunstwerk anreisten. Einige Male sei inzwischen auch schon im Keksberg herumgewühlt worden. Ich ziehe mein Exemplar von ganz oben. Durchbeißen, und: "Een nieuwe ervaring zal een waardevolle herinnering worden", rumpelt die frechste Sprache der Welt den andächtigen Kunstmoment gekonnt darnieder – auf der Rückseite neben der englischen auch die deutschsprachige Übersetzung der Keks-Inschrift, die allerdings das „sollen“ kassiert und versichert: "Eine neue Erfahrung wird zu einer wertvollen Erinnerung."
1990 hatte Félix González-Torres sein Werk "Untitled (Fortune Cookie Corner)" geschaffen, in dem die bekannten chinesischen Glückskekse in Goldfolie zum Haufen aufgeschüttet und vom Ausstellungspublikum direkt vor Ort verzehrt oder mit nach Hause genommen werden (äquivalent dazu die etwas besser bekannten "Candy Corners" mit Süßigkeiten aller Art, von denen ein Werk 2010 für 4,6 Millionen US-Dollar verkauft wurde). Jetzt haben González-Torres‘ Nachlassverwalter, die Galerien Andrea Rosen und David Zwirner, das schon immer partizipativ gedachte Kunstwerk in einer gemeinsamen Aktion als süßen Trost gegen soziale Distanzen ins Feld gebracht und hierzu 1.000 Künstler, Kuratoren, Sammler und Freunde zum Mitmachen eingeladen. Für Kekse sowie Nachschub (Mitte Juni werden die Ecken wieder aufgefüllt) wurde jeweils gesorgt.
Das ist natürlich zum einen cleveres Marketing für ein Werk, das in dieser Ausführung genau die richtige Mischung aus Exklusivität und Zugänglichkeit verspricht. Gleichzeitig aber eben auch tatsächlich eine Antwort auf die Frage, wie sich Kunst immer wieder zeitaktuell neu inszenieren lässt. Zu eventig sind die Galeristen dabei bewusst nicht vorgegangen: Eine komplette Übersicht mit allen Installationsorten beispielsweise sucht man vergebens. Auf Instagram kann man einige hiervon einsehen: neben der Garderobenecke in Rüsselsheim werden Brunnen auf italienischen Marktplätzen, eine Wand mit "Black Lives Matter"-Banner, Hauseingänge und sogar der finnische Wald mit Glückskeksen bedacht (im letztgenannten Fall ausnahmsweise unverpackt). Viele "Fortune Cookie Corners" befinden sich aber offenbar auch in Privathaushalten – eine Teilnehmerin hat die Kekse für ihre Nachbarn aufgeschüttet, die sich um ihre Eltern kümmern, eine andere verteilt sie virtuell an jeden, der mag; die Botschaften aus dem persönlich ausgewählten Exemplar kommen als abgetippte Insta-Antwort.
„Untitled (Fortune Cookie Corner)“ lässt sein Publikum an dieser Stelle problemlos stoppen und die feelgood-Botschaft mit nach Hause nehmen. Es steckt aber noch eine bedeutend existenziellere Gewissheit im Geben und Nehmen, das González-Torres in heiterer Manier auch schon für eine Nachwelt, die über sein Künstlerdasein hinausgehen würde, erdachte: Die AIDS-Krise prägte seinerzeit das Lebensgefühl einer ganzen Generation, der Künstler selbst verlor seinen Lebensgefährten an die Immunerkrankung, die ihn später selbst dahinraffte.
Vom Trivialen in die Tiefe
Der Wunsch nach eigener Unsterblichkeit mag immer ein wichtiger Motor fürs nicht nur künstlerische Schaffen und Gestalten sein, hier wird er ultra-konkret, und die optimistischsten Botschaften aus dem Keks können das Dilemma nicht auflösen, allenfalls trösten. Beziehungsweise: Ob man die Vorstellung, dass es ohnehin immer weitergeht und schon immer ging, nun tröstlich oder schauderhaft findet, ist natürlich eine persönliche Frage (in Anbetracht der aktuellen Sterberaten der Corona-Pandemie könnte hier, im über das eigene Sein hinausweisende Kunstwerk, durchaus ein weiterer sehr konkreter Anknüpfungspunkt an die aktuelle Zeit liegen, der natürlich von den Galeristen so nicht explizit beworben wird.) Dass beim Anblick eines Werks, das auf den ersten Blick so trivial scheint, neben Bazon Brock ("der Tod muss abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören", und so weiter) plötzlich auch noch Assoziationen an die katholische Eucharistie mit ihrem weitergereichten Leib geweckt werden, passiert in jedem Fall auch nicht alle Tage.
González-Torres umging die Erwartungen des Kunstpublikums seinerzeit gerade durch die betonte Leichtigkeit seines Werks: Als schwuler Künstler, meinte er mal in einem Interview, habe das Publikum von ihm Blut und AIDS und Leid sehen wollen. Seine "Cookie und Candy Corners" waren nun geradewegs das Gegenprogramm und zudem sehr bald wahnsinnig erfolgreich. Zuckersüße Subversion, die sich in Wohlgefallen auflösen kann, aber nicht muss.