See the English version of the article here.
Verstörend – dieses Attribut ist in der Kunst längst zur Floskel geronnen. Doch auf "Jerk" von Gisèle Vienne trifft es zu. Ein jugendlicher Massenmörder spielt mit Handpuppen und Bauchrednerei über zwei Dutzend Morde nach, das Publikum sieht und hört zu, wie einer Person alles entgleitet. Der Schauspieler und Bauchredner Jonathan Capdevielle zeigt das Solo seit 2008 auf der halben Welt, zur Berlin Art Week gibt es die Performance nach einer Story von Dennis Cooper als einstündigen Film in Berlin in den Sophiensælen zu sehen.
Gewalt spielt im Werk der französisch-österreichischen Puppenbauerin, Regisseurin und Fotografin Gisèle Vienne immer eine Rolle. Aber "Jerk", so Vienne im Gespräch, "ist das Heftigste, das wir gemacht haben". Vienne, 1976 in Frankreich geboren, aufgewachsen in Grenoble, Freiburg und Berlin, spricht ein sehr gutes Deutsch mit einer schönen französischen Färbung, gewählten Worten und der betont deutlichen Aussprache, wie sie bei Mehrsprachlern manchmal zu hören ist. Weil sie früher als andere wissen, dass Sprache nicht selbstverständlich, sondern erlernt und gemacht ist. Sie nehmen intuitiv wahr, dass die Welt aus Zeichen besteht.
Das bedeutet nicht, dass man die Codes schneller versteht. Gewalt ist für Vienne ein Code, den sie nicht knacken kann. "Es beschäftigt mich bis heute, warum die Menschen sich gegenseitig so viel Gewalt antun. Ich muss ständig dazu arbeiten, damit ich nicht verrückt werde! Ich verstehe es nun viel besser, was diese Gewalt leider ermöglicht, von unseren Wahrnehmungssystemen bis zu unseren ökonomisch-politischen Systemen."
Ein übersinnlicher Zufall
In "Jerk" sind die Puppen klein und manche krude, außer jene der Opfer. In ihren Choreografien streut Vienne manchmal Puppen unter die Performerinnen, die lebensgroß und realistisch sind. "Wie es keine Stille gibt, gibt es auch keine Unbeweglichkeiten“, sagt Vienne, die stets das Fließende sucht und das Definitive flieht. In den Übergängen wohnt das Unheimliche. Kaum erstaunlich, dass viele ihrer Arbeiten im Wald spielen, der Zone der Dunkelheit, aber auch der Möglichkeiten jenseits der reinen Vernunft.
So wirkt es fast wie eine Art übersinnlicher Zufall, dass die erste deutsche Einzelausstellung ihrer Puppen im Haus am Waldsee zu sehen sein wird. Über 100 davon hat Vienne schon gebaut. "A Puppet Play" lautet der Untertitel der Einzelausstellung "This Causes Consciousness to Fracture" im Haus am Waldsee. Zu erwarten ist aber kein Stück. Es sind vor allem Gruppen von Teenager-Puppen, die das Haus bespielen, sowie ein neuer Kurzfilm. Die Puppen sind für Vienne ein Zeichen der Dissoziation, der Abspaltung von Schmerz aus dem eigenen Körper in etwas anderes.
Das ermöglicht Distanz zu traumatischen Erlebnissen, von denen die Figuren wenn nicht immer erzählen, dann davon zeugen. "Und die Puppen wecken ein Mitgefühl", sagt Vienne – obwohl das kulturell verschieden sei: "Wir sind mit meinen Arbeiten viel getourt, und in Japan wurde ich gefragt, ob es stimme, dass man in Europa alte Puppen in den Müll wirft." In Japan gehe man zum Tempel und verbrenne sie zeremoniell. "Und zwar egal, ob Barbie, Sexpuppe oder eine religiösen Puppe."
Feministische Puppengeschichte
Im Georg Kolbe Museum stehen die Puppen von Vienne in einem historischen Kontext und begegnen Objekten von Künstlerinnen wie Hannah Höch, Sophie Taeuber-Arp und Emmy Hennings und anderen Kolleginnen aus der Kunstgeschichte. Das soll eine feministische Linie durch die Kunstmoderne ziehen und dazu der Frage nachgehen, warum so viele europäische Avantgarden über Puppen, Marionetten und Objekte nachgedacht haben.
Eine erste Antwort darauf gibt Vienne selbst, wenn sie über die Langsamkeit und ihre Trainingsmethoden spricht. Da fällt oft die chinesische Bewegungsform Qigong, mit der "wir die Faszien trainieren und so den ganzen Körper im Blick habe, nicht seine einzelnen Teile". Auch die historischen Avantgarden waren Versuche, die europäische Tradition zu überwinden. Ein weiterer Grund für die Puppen: Sie betonen das Mechanische, das Gemachte, sie sehen auch den Menschen als eine Maschine der Moderne. Nur auf den ersten Blick überrascht es deshalb, wenn Gisèle Vienne Charlie Chaplin, Buster Keaton und Jacques Tati als ihre Lieblingskünstler nennt. Alle drei Filmkomiker bewegten sich zwar tänzerisch, aber viel schneller als die Tänzerinnen bei Vienne, besonders in ihrer berühmten Arbeit "Crowd", die in Berlin in den Sophiensælen noch einmal wieder aufgenommen wird.
Im, klar: Wald trifft sich eine Ravercrowd, tanzt in Zeitlupe zu deutlich schnellerem Techno aus Detroit (ein Meisterwerk, das Chris Dercon in seiner kurzen Zeit an der Volksbühne zeigte). "Gerade Tati in seinem Spätwerk 'Playtime' zeigte, wie gesellschaftlicher Wandel die Körper verformt. Dabei sind immer mehrere Geschwindigkeiten am Werk, das ist nie synchron", erklärt Vienne. Was langsam ist, was schnell, was beseelt oder nicht, was ruhend und was bewegt: Diese Unterscheidungen kommen in den Kunstsprachen von Gisèle Vienne in Bewegung. Diese Ungleichzeitigkeiten zeigen den Menschen als ein Produkt seiner Zeit. Und selbst in ihren dunklen Zonen flackert ein Lichtlein der Komik.
Dieser Artikel ist zuerst im Monopol-Sonderheft zur Berlin Art Week 2024 erschienen.