Fatih Akin, 2004 bekamen Sie den Goldenen Bären für "Gegen die Wand", jetzt ist mit "Der Goldene Handschuh" wieder ein Film von Ihnen nominiert, im letzten Kosslick-Jahr. Mit welchen Gefühlen gehen Sie ins Bärenrennen?
Ohne die Berlinale wäre meine Karriere sicher ganz anders verlaufen. Ich bin Dieter Kosslick sehr dankbar, und fühle mich sehr geehrt, dass der neue Film im Wettbewerb läuft. Das ist nicht selbstverständlich, schließlich sind Filme bekannter Kollegen nicht berücksichtigt worden. "Der Goldene Handschuh" ist ja weißgott auch kein einfacher Film.
Was verbindet Sie mit Fritz Honka, dem Serienmörder? Immerhin sind Sie in Hamburg aufgewachsen.
Die biografischen Gründe sind nicht so entscheidend. Aber ich bin ein großer Charles-Bukowski-Fan. Im Roman von Heinz Strunk, der Vorlage für meinen Film, habe ich ein starkes Bukowski-Echo gefunden. Aber es wird tatsächlich auch die Geschichte eines Mörders in meiner Nachbarschaft erzählt. Der Patenonkel meines besten Freundes Adam Bousdoukos – der für den Film dessen Rolle übernommen hat – war der Nachbar von Fritz Honka. So nah war das!
Am Beginn humpelt Jonas Dassler als Fritz Honka die Treppe herunter, ein kleines Mädchen erschreckt sich furchtbar. Dassler sieht da wirklich wie Quasimodo aus.
Honka war wirklich so hässlich, dass er keine Chance bei Frauen hatte. Das ist Teil der sexuellen Frustration. Aber als Filmnerd hatte ich natürlich die "Glöckner von Notre Dame"-Verfilmungen im Gedächtnis. Anthony Quinn als Quasimodo, den habe ich als Kind im Fernsehen gesehen, der hat mich ins Mark getroffen.
Fritz Honka war über 30, Jonas Dassler ist 23 Jahre alt. Hatten Sie Befürchtungen, der junge Schauspieler könnte mit der Rolle überfordert werden?
Natürlich dachte ich erst, ich überlaste ihn womöglich. Bei Diane Kruger ging es mir genauso, als wir "Aus dem Nichts" drehten. Aber Jonas ist so ein außergewöhnlicher Schauspieler! Es wäre eine Sünde gewesen, den Film nicht mit ihm zu machen. Sicher war es eine riskante Entscheidung, man hätte die Rolle auch mit den üblichen Verdächtigen besetzen können, aber dann hätte die Geschichte nicht so eine Dynamik gehabt wie jetzt. Jonas’ Jugendlichkeit bringt der Figur eine gewisse Zerbrechlichkeit. Er ist ein Monster, aber mehr in der Tradition von Quinn, Charles Laughton oder Boris Karloff. Ich bin nun mal ein großer Fan von Horrorfilmen. Genrefilme sind hierzulande schwierig unterzubringen, anders als in den USA, wo sie selbstverständlich Teil der Kultur sind. Aber mit der Serienmördergeschichte konnte ich meine Liebe zum Genre doch in meine Arbeit einbauen. Honka ist eine Figur der Populärkultur.
Diese Berlinale steht ja im Zeichen von #MeToo. Es sind mehr Filmemacherinnen denn je am Start, sieben von 17 Wettbewerbsfilmen wurden von Frauen inszeniert. Wie passt denn ein Film mit so grausamen Vergewaltigungs- und Mordszenen in diese Reihe?
#MeToo war während des Drehs natürlich auch präsent. Wir bekamen ja sogar Auflagen von Warner, der amerikanischen Produktionsfirma, wie wir uns am Set zu verhalten haben. Ich glaube aber nicht, dass sich die Machart des Films durch den Diskurs geändert hat. Ich habe ohnehin eine bestimmte Haltung zu Gewaltdarstellungen im Film. Ich muss mir die Gewalt selber glauben, ich kann sie nicht zelebrieren. Da würde ich mir wie ein Gaukler vorkommen. Es geht um Wahrhaftigkeit. Wie kann ich Gewalt – oder Sex, zeigen – ohne wegzuschwenken, aber auch ohne die laute Tarantino-Nummer daraus zu machen? Wie schaffe ich es, dass die Gewalt im Kopf des Zuschauers entsteht? Die Aufgabe war: die Würde der Opfer zu wahren, sogar: Honkas Würde zu wahren.
Schlager spielen eine große Rolle, Honka legt zuhause immer Adamo auf: "Es geht eine Träne auf Reisen". Wie haben Sie die Stücke ausgesucht?
Wir wollten auf keinen Fall Lachnummern produzieren. Die Versuchung liegt nahe "Ein bisschen Spaß muss sein" von Roberto Blanco aufzulegen, während jemand umgebracht wird, und genau dahin wollte ich nicht. Wir haben die Songs sehr bewusst ausgewählt. Es ist so wie Handke sagt: Am Ende landet man immer bei den Schlagern.
Wie ist es Ihnen gelungen, die 70er-Jahre-Stimmung so gut einzufangen?
Der Kameramann Rainer Klausmann spielte eine große Rolle. Wir haben das Licht studiert aus dieser Zeit, haben etwa Dokumentaraufnahmen aus Kneipen herangezogen. Da war viel Neonlicht zu sehen. Neonbeleuchtung und Rauch – das sieht schon sehr "70er" aus. Ein wichtiger Schlüssel zur Nachkriegszeit sind auch die Filme von Rainer Werner Fassbinder. Vor allem "Händler der vier Jahreszeiten“" in dem übrigens viele Schlager vorkommen. Der Song von Rocco Granata, "Alles was du willst, kannst du nicht haben, buona notte", kommt auch bei mir vor. Und wenn du den "Händler" studierst, die Musik, das Licht, den Dekor, das hilft gewaltig.
Die expliziten Mordszenen sind schwer zu ertragen. Gerade Honkas letzter Mord – Frida wird stranguliert – wird sehr explizit gezeigt. Musste das sein?
Jemanden umzubringen, ist nicht einfach. In Hollywoodfilmen wird Gewalt stark gekürzt, und damit nimmt man dem Ganzen die Realität, ich würde sogar sagen: die Würde. Schnitt – und tot. Man schneidet das Leben einfach ab. Die Biologie hat uns so ausgestattet, dass wir überleben wollen. Auch eine Prostuierte, eine Alkoholikerin, die hat wie jeder den Willen zu leben. Honkas letztes Opfer, sie war Zwangsprostituierte in einem Konzentrationslager, hat den Holocaust überlebt, sie will leben, sie hat das Recht dazu. Und beim Dreh ging es darum, das visuell adäquat umzusetzen. Diesen starken Funken in uns, das, was überleben will, das wollte ich als großes Drama, als wirkliche Tragödie drastisch darstellen. Das berührt, schockiert und erschüttert den Zuschauer. Und das soll es auch!
Das ist doch purer Voyeurismus!
Wir sind doch Voyeure! Jeder Mensch! Erzählen Sie mir doch nicht, Sie würden an einem Autounfall vorbeifahren und nicht hinschauen. Doch Voyeurismus ist in der Gesellschaft heute negativ besetzt. Das ist eigentlich falsch. Voyeurismus ist ein Überlebensimpuls. Es hat einen evolutionären Sinn. Wir schauen hin und wissen dann: wir leben noch. Das hat mir die Psychologin am Set erklärt, dass Voyeurismus in Ordnung ist.
Eine Psychologin am Set?
Das war die Idee der Produzentin Nurhan Şekerci-Porst, dass eine Vertrauensperson für die Schauspieler am Set anwesend sein soll. Es war nicht so, dass die Darstellerinnen der Psychologin ihr Herz ausgeschüttet hätten, aber sie haben sich an sie gewandt, um etwas über die Innenwelten der Opfer zu erfahren, wie es denen ergangen sein mochte. Produzenten sorgen bei Dreharbeiten immer für eine Art soziales Netz. Man ist beim Dreh eine große Familie.
Sie sagen, dass die Würde der Menschen zählt. Zugleich zeigen Sie den Unrat und Dreck – ist das nicht unwürdig?
Ich glaube nicht, dass Ekel und Würde sich zwangsläufig widersprechen. Auch Flüchtlinge zum Beispiel, die in einem Lager in hygienisch schlimmen Zuständen leben, haben ja eine Würde. Das Ekelhafte darzustellen ist für einen Filmemacher eine ähnliche Herausforderung wie Eleganz zu filmen. Mein nächstes Projekt ist ein Film über Marlene Dietrich, deren Rolle Diane Kruger spielen wird. Diane hatte auch die Idee dazu. Das wird sehr schwer, die Kostüme auszuleuchten. Ein ähnlicher Aufwand, wie Ekel darzustellen. Man glaubt nicht, wie viele Maler am Set benötigt werden, um die vollgeschissenen Toiletten zu präparieren.
Würden Sie sagen, "Der Goldene Handschuh" war Ihr bisher aufwendigster Film?
Nein, bestimmt nicht, es ging sehr zügig voran. Es war wahrscheinlich der schnellste Dreh meiner Karriere. Als wir den „Goldenen Handschuh“ abgedreht hatten, habe ich den Film von Julian Schnabel über Vincent van Gogh gesehen, "At Eternitys Gate". Willem Dafoe sagt in der van-Gogh-Rolle: "Man muss ein Bild schnell malen, in einem Strich." Gauguin, gespielt von Oscar Isaac, widerspricht ihm, er müsse sich beim Malen Zeit lassen. Aber van Gogh hat Recht! Ich muss gestehen, ich mag meinen neuen Film ganz gerne, ich finde ihn technisch eine echte Leistung. Und ich denke, es stimmt einfach: Man soll zügig arbeiten. Das ist mein Plan für die Zukunft, gar nicht so viel nachdenken, die Filme raushauen, fertig.